Die Letzte Spur
kalte Glas an ihre Stirn, als könne sie damit ihr Fieber vertreiben. Fantasierte sie, oder war das eine plausible Möglichkeit? Es setzte voraus, dass Jacqueline in der Nähe ihres früheren Hauses gewesen war. Vielleicht hatte sie in ihrem Auto gesessen. Vielleicht hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, ein Dreivierteljahr nach ihrem Auszug dort ihren Ehemann noch immer zu bespitzeln und zu beschatten. Wenn sie krankhaft eifersüchtig und in einem Wahn gefangen war, so mochte dies nicht einfach dadurch aufgehört haben, dass sie sich getrennt hatte und in einen anderen Ort gezogen war.
Vielleicht war Jacqueline auch am Flughafen gewesen. Hatte selbst irgendwohin gewollt, war wegen des Nebels nicht fortgekommen und hatte gesehen, wie ihr Mann mit einer anderen Frau davonging. Oder war sie am nächsten Morgen in der U-Bahn gewesen? Hatte sie Elaine angesprochen? Ihr irgendetwas erzählt, sie aus der Stadt gelockt?
Rosanna zwang sich, ruhig und sachlich zu denken. All ihre Gedankenspiele schienen absurd, aber nicht zu absurd für die Wirklichkeit. Es mochte ein Zufall gewesen sein oder eine Situation, die Jacqueline bewusst herbeigeführt hatte, aber es erschien ihr nicht zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass Jacqueline Reeve etwas gesehen oder mitbekommen hatte, was ihre Zwanghaftigkeit angeheizt hatte.
Und dann?
War es denkbar, dass Jacqueline Reeve Elaine Dawson umgebracht hatte?
So denkbar und so wenig denkbar zugleich wie die Vorstellung, Marc könne es getan haben. Der unbekannte Täter war immer noch der wahrscheinlichste, weil er aus einer Welt kommen mochte, in der es Verbrechen dieser Art gab: Körperverletzung und Mord und Totschlag, herbeigeführt durch Triebhaftigkeit oder Geldgier oder Lust an Gewalt. Niemand konnte abstreiten, dass es diese dunkle Welt gab, die Taten ihrer Bewohner füllten jeden Tag die Seiten der Zeitungen. Aber Marc gehörte nicht dorthin. Und auch von Jacqueline hätte es Rosanna nie geglaubt. Sie beide jedoch auszuklammern hätte bedeutet, den Fundort von Elaines Ausweis als einen Zufall abzutun. Aber selbst das war denkbar. Zufälle waren immer denkbar.
Sie schrak zusammen, als sie Schritte hinter sich hörte. Marc kam aus dem Schlafzimmer und blinzelte geblendet in das Licht aus der Küchenecke.
»Ich bin aufgewacht, und du warst fort«, sagte er, »was ist los? Kannst du nicht schlafen?«
»Ich bekomme eine Erkältung, glaube ich«, sagte Rosanna, »ich habe Halsschmerzen. Ich brauchte etwas zum Trinken.«
Er nahm sie in die Arme. Sein Körper fühlte sich warm und irgendwie tröstlich an.
»Armer Schatz. Aber du solltest hier nicht ohne Bademantel herumstehen. Das ist viel zu kalt.« Er schob sie ein Stück von sich weg, musterte sie prüfend und legte ihr dann die Hand auf die Stirn.
»Du hast Fieber«, stellte er fest.
Vielleicht lag alles an dem Fieber. Vielleicht steigerte sie sich deshalb in verrückte Ideen hinein. Trotzdem…
»Marc, könnte es sein …«, begann sie und brach dann ab.
Könnte es sein, dass dich deine Frau damals gesehen hat? Deine krankhaft eifersüchtige Frau? Als du Elaine mit in dein Haus genommen hast?
Es war zu früh für diese Frage. Zu früh, ihn mit ihrem ungeheuerlichen Verdacht zu konfrontieren.
»Ja?«, fragte er.
Sie lächelte, schüttelte den Kopf. »Ach, nichts. Du hast recht, mir ist kalt. Lass uns wieder ins Bett gehen.«
Freitag, 22. Februar
1
Es war, wie Rosanna vermutet hatte: Wiltonfield lag nicht weit hinter Binfield Heath und kurz vor Reading, ein verträumtes, kleines Dorf, eingebettet in Wälder und Wiesen, direkt am Ufer der hier recht breiten, sehr friedlich dahinfließenden Themse. Der Anblick der verwinkelten Straßen und Gassen und der kleinen rot geklinkerten Häuser mit den bunt bemalten Türen war sehr idyllisch, denn inzwischen hatte sich das Wetter gebessert, der Himmel war zwar noch voller Wolken, aber der Nebel hatte sich verzogen. Und überall hier draußen lag der Frühling auf der Lauer, schien das Gras darauf zu warten, in die Höhe zu schießen, und schien die schwarze, nass glänzende Erde bereit, all das Leben zu entlassen, das in ihr keimte. Die sonnigen Tage hatten die Vegetation vorangetrieben, der Kälteeinbruch hatte nur für eine Verzögerung gesorgt. Mit der nächsten Schönwetterperiode würde das Land in Farben ausbrechen.
Rosanna fand die Stelle mit den Containern sofort, von der Pamela gesprochen hatte. Wiltonfield war so klein, dass man es im Handumdrehen
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