Die Letzte Spur
umrundet hatte, und tatsächlich befand sich an der Westausfahrt des Ortes ein Parkplatz, von dem aus man zu diversen Wanderungen aufbrechen konnte, deren Wegeverlauf von verschiedenfarbigen Schildern gekennzeichnet wurde. Eine große Tafel informierte ausführlich über Flora und Fauna der Gegend, wies auf einen etwas außerhalb gelegenen Gasthof hin, in dem man offenbar recht gut essen konnte, und auf den Yachtclub, der sich anscheinend in der Nähe jenes Gasthofs befand.
Am Rande des Parkplatzes standen drei große Container für Altkleider. Ein Schild bat darum, nur solche Kleidungsstücke abzugeben, die noch tragbar waren, und diese möglichst sauber zu verpacken. Schuhe möge man paarweise zusammenbinden.
An diesem kalten Morgen hielt sich kein Mensch an der einsamen Stelle auf. Rosanna parkte ihren Wagen und trat dicht an die Container heran. Sie hielt beide Arme um ihre Mitte geschlungen, weil sie so fror. Sie hatte sich vor ihrem Aufbruch in einer Londoner Apotheke Halstabletten und ein fiebersenkendes Medikament gekauft, und es ging ihr ein wenig besser, aber sie konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie krank war und dass sie wahrscheinlich spätestens morgen oder übermorgen das Bett würde hüten müssen. Eigentlich hatte sie das Marc schon für heute versprochen. Beim Frühstück hatte er sie immer wieder besorgt angesehen und sie schließlich gebeten, im Bett zu bleiben, bis er wiederkäme.
»Heute ist Freitag. Wird nicht so spät«, hatte er beim Abschied gesagt.
Sie hatte aus dem Fenster geschaut und zu ihrer Erleichterung gesehen, dass er den Weg Richtung U-Bahn einschlug. Damit hatte sie das Auto zu ihrer Verfügung.
Sie fröstelte. Nicht nur wegen der kalten Luft, auch wegen der Einsamkeit dieses Ortes. So mochte es auch im Januar gewesen sein, fünf Jahre zuvor. An einem Wintermorgen konnte man hier problemlos Kleider entsorgen, ohne gesehen zu werden. Im Sommer und an den Wochenenden mochte es wimmeln von Wanderern, aber dazwischen ließ sich keine Seele blicken.
Was konnte man noch entsorgen?
Denn die Frage war doch: Wenn jemand – Jacqueline? – hier Elaines Kleider abgelegt hatte, was war mit Elaine selbst geschehen? Es hatte nie einen Leichenfund gegeben, den man ihrem Fall hätte zuordnen können.
Sie musste niesen, zog hastig ein Taschentuch hervor und putzte sich kräftig die Nase.
Ich bin krank, und ich verrenne mich in etwas, dachte sie.
Sie sah die schwere, grobknochige Elaine vor sich – und die zierliche, kleine Jacqueline. Was stellte diese zarte Frau mit einer Leiche an? Wie sollte sie das rein kräftemäßig schaffen?
Nachdenklich blickte sie über die Wiesen zum Fluss hinunter. Man konnte das andere Ufer gut sehen, aber er war wirklich sehr breit an dieser Stelle. Große Weidenbäume tauchten ihre Arme in die Wellen. Wenn man jemanden in einem Fluss versenkte, musste man kein Grab schaufeln.
Der Yachtclub war ganz in der Nähe. Jacquelines Schiff somit auch.
Einem spontanen Entschluss folgend, wandte sie sich wieder dem Auto zu, warf dabei einen Blick auf die Tafel. Der Beschreibung nach musste sie bloß der Landstraße folgen, um den Club zu erreichen. Es war nur eine einfache Frage, die sie stellen wollte. Verrückt vielleicht, aber nun war sie schon einmal hier.
Sie erreichte den Club zehn Minuten später. Ein großes hölzernes Clubhaus, eine breite hölzerne Plattform über dem Wasser, auf der Tische und Bänke standen, die mit Plastikplanen abgedeckt waren. Lange Stege ragten in den Fluss, an ihnen waren zahlreiche größere und kleinere Motorboote vertäut. Gleich neben dem Clubhaus befand sich ein Wohnhaus, dessen Fensterläden jedoch fest verschlossen waren. Im Sommer war hier sicher viel los. Im Augenblick war der Ort von erschlagender, trostloser Einsamkeit.
Rosanna stellte ihr Auto an einem Parkplatz oberhalb des Gebäudes ab und lief über einen schmalen, sandigen Weg zum Fluss hinunter. Die kalte Luft roch nach dem Wasser.
Der verhangene Himmel vermochte den Wellen kein Licht und keine Farbe zu geben, sie waren von einem etwas gelblichen Grau, sahen abweisend, fast etwas bedrohlich aus.
Clubhaus und Bootssteg wurden von einem hohen Zaun umschlossen, und Rosanna fürchtete schon, dass ihr Ausflug an dieser Stelle zu Ende sein würde, aber dann bemerkte sie, dass das Tor offen stand und dass direkt daneben ein Fahrrad lehnte. Irgendjemand musste da sein.
Sie betrat das Gelände, stieg zwei Stufen zu der Plattform hinauf, umrundete das
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