Die Letzte Spur
setzte ihre Baseballkappe auf den Kopf und verließ das Zimmer. Von Cedric hatte sie nichts mehr gehört oder gesehen; entweder war er spät in der Nacht zurückgekommen und schlief jetzt noch, oder er war noch gar nicht wieder da. Ein bisschen machte sie sich Sorgen um ihn. Das Hotel war teuer, und sie wusste, dass er nicht viel Geld hatte. Hoffentlich übernahm er sich nicht mit seinem langen Aufenthalt in London. Außerdem warteten doch sicher Verpflichtungen in New York auf ihn, irgendein Job, und dann hatte er ja davon gesprochen, sich als Fotograf selbstständig machen zu wollen. Es war typisch Cedric, anstatt endlich sein Leben anzugehen, in London herumzuhängen, halbe Tage zu verschlafen und alte Freunde abzuklappern. Vor der drängenden Notwendigkeit, Struktur und Sinn in seinen Alltag zu bringen, lief er wieder einmal davon. Er war ein erwachsener Mann, aber er war auch ihr Bruder, und vielleicht sollte sie bei nächster Gelegenheit einmal ernsthaft mit ihm sprechen.
Die feuchtkalte Luft tat ihr gut. Rosanna musste praktisch nur die Straße überqueren, dann hatte sie schon den Hyde Park erreicht. Es waren wenig Leute unterwegs, ein paar Spaziergänger, die eilig und mit hochgeschlagenen Mantelkragen ihre Hunde ausführten, ein paar Jugendliche, die herumlungerten und mit klammen Fingern Zigaretten drehten, ein paar Leute, die offenbar etwas verspätet auf dem Weg zur Arbeit waren. Nur hier und da ein Jogger. Rosanna fing an zu laufen, merkte, dass sie viel zu schnell rannte und zudem nicht gut in Form war. Das Tempo würde sie nicht lange durchhalten. Sie wurde langsamer, fand schließlich ihren Rhythmus und ihre Atmung. Gleichmäßig trabte sie über die sandigen Wege. Es war eine Nässe in der Luft, die sich wie ein feiner Film über ihr Gesicht und ihre Kleidung legte und ihr Kühlung spendete, als ihr heiß wurde und sie sich schließlich, abgekämpft und keuchend, auf einer Parkbank niederließ, um einen Moment auszuruhen.
Als sie eine Stunde später in ihr Hotel zurückkehrte, war sie nass und verschwitzt, aber sie fühlte sich besser. Und wieder ein wenig motivierter, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Ihr Handy, das sie auf ihrem Nachttisch liegen gelassen hatte, hörte sie schon auf dem Flur klingeln. Sie hastete los, stürzte ins Zimmer und meldete sich atemlos. »Ja? Hallo?«
»Wo steckst du denn?«, fragte Nick vorwurfsvoll. »Ich versuche dich seit mindestens einer halben Stunde zu erreichen!«
»Ich war Joggen. Ich brauchte einfach mal ein bisschen Bewegung.«
»Das Ding, auf dem ich dich gerade anrufe, wurde erfunden, um es bei derlei Gelegenheiten mit sich zu führen«, sagte Nick etwas verstimmt. Dann änderte sich sein Tonfall, und er fuhr aufgeregt fort: »Tolle Neuigkeit, Rosanna! Wir haben eine Einladung in eine Talkshow!«
»In eine Talkshow?«
»Ich weiß nicht, ob du sie kennst. Private Talk . Jeden Freitagabend um zehn Uhr. Es werden immer drei oder vier Gäste eingeladen, die allerdings überhaupt nichts miteinander zu tun haben, aber wegen irgendetwas in ihrem Leben brandaktuell und von öffentlichem Interesse sind – zumindest für den Moment. Schauspieler, die einen neuen Film vorstellen, Skandalreporter, die irgendetwas aufgedeckt haben, Schriftsteller mit einem brisanten Roman, die neue Miss Liverpool, die auf unredliche Weise zu ihrem Titel gekommen sein soll… in der Art. Du kannst es dir vorstellen. «
»Und jetzt haben sie dich eingeladen?«
Nick lachte. »Wer will denn einen alternden Chefredakteur sehen? Nein, die junge, attraktive Journalistin ist von Interesse. Du bist übermorgen der Stargast!«
Sie erschrak so, dass ihre Knie weich wurden und sie sich rasch auf ihr Bett setzen musste. »Ich? Ach Gott, Nick, so etwas habe ich ja noch nie gemacht!«
»Du wirst perfekt sein, Rosanna. Du bist intelligent, sehr eloquent und siehst auch noch gut aus. Und ich muss dir ja nicht extra sagen, dass es eine fantastische Werbung für unsere Serie ist.«
»Ich bin wegen der Serie eingeladen«, sagte Rosanna und fand gleichzeitig, dass diese Bemerkung nicht besonders geistreich war. Weswegen denn sonst?
»Ja, klar. Wegen der Serie im Allgemeinen und wegen Elaine und deiner speziellen Beziehung zu ihr im Besonderen. Dass die Journalistin, die über diesen Fall schreibt, ein ganz persönliches Interesse an einer Antwort auf die Frage nach Elaines Verschwinden hat, macht die Sache pikant. Allerdings hat die verantwortliche Redakteurin zudem gefragt, ob …« Er
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