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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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gepflegte Häuschen, gewellte grüne Wiesen drumherum. Die Kommilitonin war verheiratet und hatte drei Töchter, entzückende kleine Mädchen mit langen Zöpfen und weißen Strumpfhosen. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer lagen zwei Katzen. Abends kam ihr Mann nach Hause und wurde von den Mädchen stürmisch begrüßt. Noch vor etlichen Jahren hätte Cedric gedacht: Spießig! Aber die Zeiten waren vorbei. Er dachte an seine New Yorker Wohnung, der stets etwas Kaltes und Düsteres anhaftete, an seine Abende in den Kneipen von Manhattan, an seine rasch wechselnden Bettgefährtinnen und an manchen einsamen Sonntagmorgen, den er nur mit einer Zeitung und dem schmerzhaften Kater vom Vorabend verbrachte.
    Sie hatten reichlich getrunken, und man hatte ihm angeboten, die Nacht im Gästezimmer zu verbringen. Als er am Morgen aufwachte, hatte eine der Katzen auf seinen Füßen gelegen, warm und schnurrend, und vor seinem Fenster hatte er die Mädchen plappern und lachen hören. Er war aufgestanden und hatte ihnen nachgeschaut, wie sie in ihren Schuluniformen den Weg hinunter zur Bushaltestelle gingen. Ein jähes Gefühl von Einsamkeit hatte ihn ergriffen. Er war in sein Bett zurückgekrochen, hatte die Katze zu sich heraufgezogen und auf seine Brust gelegt. Er hatte das verrückte Gefühl gehabt, dass ihr weiches Fell sein inneres Frieren linderte.
    Im Grunde waren diese Gefühle und Gedanken – dass er etwas versäumt hatte im Leben, dass es ihm nicht gelingen wollte, eine bestimmte Kurve zu bekommen, für die es längst an der Zeit war – nicht neu. Wie ein kleiner, nagender Schmerz saßen sie seit drei oder vier Jahren irgendwo in seinem Kopf oder in seiner Seele. Unauffällig genug, so dass er sie immer wieder verdrängen konnte durch Ereignisse, Menschen, neue Frauen, rauschende Partys, Alkohol. New York bot zahlreiche Möglichkeiten, das, was nicht in Ordnung war, zu überspielen. Aber immer wieder kam es auch zu den Momenten, in denen der Schmerz spürbar wurde und ihm signalisierte: Ich bin immer noch da. Ich werde immer da sein. Wenn du innehältst, wirst du mich bemerken.
    Manchmal war das ein Abend inmitten einer glücklichen, intakten Familie. Manchmal ein Stau auf der Autobahn.
    In New York war Cedric ein paar Mal zu einem Psychotherapeuten gegangen. Die meisten seiner Bekannten gingen in eine Therapie oder machten eine Analyse, und in einer Phase, in der er sich besonders einsam und nichtsnutzig gefühlt hatte, war Cedric dieser Weg als eine Chance erschienen. Er wusste nicht, ob der grauhaarige Mann, dem er in einem hellen, großen Zimmer in einem bequemen Ledersessel gegenübersaß, als Arzt etwas taugte oder nicht, aber es war ihm zumindest gelungen, recht rasch ein paar Knackpunkten im Leben seines Patienten auf die Spur zu kommen. Regelrecht festgebissen hatte er sich dann bei Geoffrey. Genauer gesagt, bei der Nacht, als der Unfall passiert war. Cedric hatte den fatalen Ablauf der Ereignisse wieder und wieder schildern und seine Gefühle dabei analysieren müssen, bis es ihm zu bunt geworden war. Er hatte den Therapeuten nicht wieder aufgesucht. Es tat ihm nicht gut, über Geoffrey zu sprechen. Natürlich war er nicht blöd, ihm war schon klar, dass es genau dieses Unbehagen, fast könnte man sagen: dieser Horror war, der ihn bei jedem Gedanken an Geoff befiel, was die Geschichte für den Therapeuten interessant machte. Aber dann hätte er ihm eben schneller helfen müssen. Man konnte doch einen Patienten nicht bloß einfach wieder und wieder aufwühlen und dann nach Hause schicken. Bis zum nächsten Mal. Einmal hatte er auf dem Nachhauseweg zu weinen begonnen. Das wollte er nie wieder erleben. Heulend durch die Straßen von Manhattan zu wanken… was bildete sich der Typ ein?
    Geoffrey. Geoffrey und Cedric. Geoffreyundcedric. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte man die beiden Namen in einem einzigen Wort sprechen und schreiben können. So unzertrennlich waren sie gewesen. Es hatte nichts gegeben, was sie nicht gemeinsam taten. Fast nichts. Aufs Klo gingen sie allein, und Dates mit Mädchen nahm jeder für sich wahr. Aber ansonsten … unzertrennlich wie Brüder.
    Bis zu jener Nacht.
    Er versuchte den Gedanken wegzuschieben. Wenn er hier in diesem verdammten Stau, der ihn zu völliger Bewegungslosigkeit verurteilte, anfing, über Geoffrey nachzudenken, würde er durchdrehen und entweder schreien oder hupen oder beides tun. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, nach England zu kommen. Aber sein

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