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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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einsamer Vater hatte ihm leidgetan, und wenn er ehrlich war, so hatte auch in ihm selbst ein Einsamkeitsgefühl genagt. Schließlich konnte er nicht Geoffreys wegen für alle Zeiten seiner Heimat fernbleiben. Vielleicht hätte er ihn nicht in diesem furchtbaren Heim besuchen sollen. Aber dann wäre er sich wie ein Schuft vorgekommen.
    Und ausgerechnet jetzt arbeitete Rosanna auch noch an dieser Geschichte über Elaine. Es ging wirklich mit dem Teufel zu.
    Ich sollte jetzt wenigstens schnell abreisen, dachte er, Zimmer an Zimmer mit Rosanna im Hotel, das muss mich ja aufwühlen. Dauernd spricht sie über Elaine.
    Eigentlich hatte er Geoffs kleine Schwester nie allzu gut gekannt. Ein eher weinerliches Mädchen, das jedem auf die Nerven ging. Sie hatte sich zudem zu einem ziemlich unansehnlichen Teenager entwickelt, so dass Cedrics Interesse auch in dieser Hinsicht nie erwacht war. Eigentlich hatte er sie immer übersehen. Nicht einmal ihr Verschwinden fünf Jahre zuvor hatte ihn wirklich berührt.
    Heute, zum ersten Mal, in diesem dicken Stau auf der M11, dachte er: die kleine Elaine. Was, verdammt, ist bloß mit ihr passiert?
    Es gab Mädchen, von denen hätte er sofort geglaubt, dass sie mit einem Kerl durchgebrannt waren. Oder solche, von denen man sich vorstellen konnte, dass sie sich per Anhalter auf einen ziellosen Weg machten, am Ende in irgendeiner WG landeten oder in einer Selbsterfahrungsgruppe auf dem Land. Solche, die sich nach Paris aufmachten oder in die Provence, wo sie schließlich Oliven oder selbstgemalte Bilder verkauften. Mädchen, um die man sich eigentlich keine Sorgen machen musste, weil sie abenteuerlustig waren, neugierig, wild und lebenshungrig.
    Aber nicht Elaine.
    Wenn er sie hätte beschreiben sollen, wären ihm Begriffe eingefallen wie: verklemmt. Langweilig. Prüde. Spießig.
    Er wusste, dass sie, aufgewachsen ohne den früh verstorbenen Vater, nach dem Tod der Mutter hingebungsvoll für Geoffrey gesorgt hatte. War es vorstellbar, dass sie ihn verließ? Wissend, dass dies für ihn ein Leben im Heim bedeutete?
    Er schüttelte den Kopf. Das passte nicht zu ihr. Und doch war es vielleicht anmaßend, dass jeder, der sie gekannt hatte, meinte sagen zu können, was zu ihr gepasst hätte und was nicht. Denn zu Elaines seltsam zurückgenommenem Wesen hatte es gerade gehört, dass eigentlich niemand wirklich von kennen hatte sprechen können. Es gab keine Freundin, mit der sie sich ausgetauscht hätte. Niemanden, den sie in ihr Inneres hätte blicken lassen. Jedenfalls nicht, dass einer davon gewusst hätte.
    Eben, dachte er, ärgerlich auf sich selbst, auch das weiß ich eigentlich nicht. Ich weiß nichts. Rosanna weiß nichts. Vielleicht weiß nicht einmal Geoffrey so viel, wie er glaubt.
    Es war ein ganz neuer Gedanke, der sich plötzlich in Cedric ausbreitete, aber er fand ihn keinesfalls abwegig: Wenn nun Elaine eine ganz andere gewesen war, als sie alle geglaubt hatten? Wenn sich hinter ihrer unscheinbaren Fassade, hinter ihrer schüchternen Zurückhaltung in all den Jahren ein ganz anderer Mensch aufgebaut und entwickelt hatte, jenseits der treusorgenden Schwester, der pflichtbewussten Arzthelferin, dem farblosen Mauerblümchen? Möglich, dass Elaine ein Doppelleben geführt hatte. Und dass sie die Reise nach Gibraltar genutzt hatte, sich in dieses andere Leben zu verabschieden.
    Cedric lehnte sich in seinem Autositz zurück. Ein zweiter Hubschrauber war am Horizont aufgetaucht. Es musste wirklich ein furchtbarer Unfall sein, der sich ereignet hatte.
    Das konnte dauern.
    Ergeben schloss er die Augen. Wie es aussah, konnte er in aller Ruhe noch ein kleines Schläfchen einschieben, ehe es weiterging.
     
    5
     
    Das Apartment war kleiner als ihre bisherige Wohnung, aber viel heller und freundlicher. Ein Wohnzimmer mit einer Kochnische und mit Kiefernholzmöbeln eingerichtet, ein winziges Schlafzimmer mit geblümten Vorhängen am Fenster und einem bunten Flickenteppich auf dem Boden, ein hellblau gefliestes Bad, das zwar keine Wanne, aber zumindest eine Dusche hatte. Wenn man aus den weiß lackierten Sprossenfenstern blickte, sah man über die flachen Wiesen, die sich hinter dem Haus in die Endlosigkeit erstreckten. Winterfahles, niedriges Gras auf sandigem Boden. Wenn man sich zum Badezimmerfenster weit hinauslehnte und nach rechts schaute, konnte man einen Zipfel vom Meer sehen.
    Sie wusste, dass sie sich hier wohl fühlen würde. Viel wohler als in dem dunklen Loch über dem schrecklichen

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