Die Letzte Spur
vergangenen Jahres, etwas Entscheidendes in Lindas Leben verändert hat. Aus folgenden Gründen: Sie trennt sich um diese Zeit offensichtlich ohne Vorwarnung von ihrem langjährigen Freund. Sie hört plötzlich auf, ihre Schwester und bis dahin wohl engste Vertraute über die Vorkommnisse in ihrem Leben auf dem Laufenden zu halten. Zum dritten: Angela erwähnte in dem ersten Gespräch mit der Polizei, dass ihre Schwester auf einmal auffallend teure Kleidung getragen habe. Man konnte sich in der Familie nicht erklären, woher sie die finanziellen Mittel dafür hatte. Könnte auch diese Veränderung vor etwa einem halben Jahr ihren Anfang genommen haben?«
Angela überlegte. »Das könnte hinkommen«, meinte sie dann.
Fielder nickte. »Das klingt nach einem neuen Mann in ihrem Leben«, sagte er, »einem, der Geld hatte und mit dem es ihr womöglich sehr ernst war. So ernst, dass er nicht länger nächtliches Gesprächsthema mit ihrer Schwester war.«
»Glauben Sie, dass der sie umgebracht hat?«, fragte Gordon.
»Darauf gibt es vorläufig keinen Hinweis. Und solange wir den Mann nicht kennen, stochern wir ziemlich im Nebel. Er muss überhaupt nichts mit ihrem Tod zu tun haben.
Aber er ist vielleicht der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Bei ihm hat sie sich nach dem Streit mit ihrem Vater höchstwahrscheinlich aufgehalten. Zumindest könnte er uns etwas über ihre letzten Tage erzählen.« Fielder erhob sich. »Würden Sie mir erlauben, mich in Lindas Sachen umzusehen? Schränke, Schubladen, Taschen, alles. Vielleicht findet sich ein Hinweis auf den großen Unbekannten.«
Auch Gordon stand auf. »Klar«, sagte er, »kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Zimmer.«
»Ich komme mit«, sagte Angela hastig. Fielder nickte. Schließlich war es auch ihr Zimmer.
»Übrigens«, er blieb noch einmal stehen, »sagt Ihnen der Name Jane French etwas?«
Alle starrten ihn an.
»Jane French?«, wiederholte Sally.
»Is' das 'ne Freundin von unserer Linda?«, fragte Gordon.
Fielder schüttelte den Kopf. »Nein. Wohl nicht. Jane French ist eine junge Frau, die vor mehr als fünf Jahren ermordet wurde. Man fand sie im Epping Forest, allerdings in einer ganz anderen Ecke als Linda. Die beiden Fälle müssen überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Aber … als ich die Fotos von Linda dort draußen anschaute, als ich den Autopsiebericht las, fiel mir sofort die Geschichte von damals ein. Jane war vergewaltigt und böse misshandelt worden, anschließend hatte man sie gefesselt am Rand eines Tümpels abgelegt, in dem sie ertrank.«
»Wie … unsere …«, stammelte Sally leise.
»Es muss trotzdem nichts miteinander zu tun haben«, wiederholte Fielder.
»Hat man … weiß man, wer damals …?«, fragte Gordon.
Fielder schüttelte bedauernd den Kopf. Der Fall Jane French gehörte zu den größten Frustrationen, die er in sein ег bisherigen Laufbahn erlebt hatte. Es hatte sich nicht die kleinste Spur ergeben, kein Hinweis aus der Bevölkerung, der nicht im Sande verlaufen wäre.
»Der Fall Jane French wurde nie aufgeklärt«, sagte er.
3
Rosanna musste eine Weile warten, ehe sie Geoffrey an den Telefonapparat bekam. Die Schwester, die im Pflegeheim den Hörer abgenommen und von Rosannas Anliegen gehört hatte, hatte gestöhnt. »Ich versuche es«, hatte sie gesagt, »aber es ist schwierig mit Mr. Dawson. Ich hoffe, er erklärt sich bereit, mit Ihnen zu sprechen.«
Offenbar war man von Geoffrey wenig Kooperationsbereitschaft gewohnt. Während sie wartete, dachte Rosanna an den lebhaften jungen Mann, der er einst gewesen war, und verglich dieses Bild mit dem Bündel verbitterten Elends, dem sie wenige Tage zuvor begegnet war. Ein schmerzhafter Gedanke. Sie verstand seine Wut, seinen Hass auf die Umwelt, auf alle Menschen, auf das Schicksal. Wahrscheinlich hätte sie selbst sich nicht anders verhalten.
Sie konnte hören, dass sich jemand dem Telefon näherte – ein leises Quietschen, vermutlich die Gummireifen des Rollstuhls auf dem magermilchweißen Linoleumboden –, und gleich darauf vernahm sie Geoffreys Stimme.
»Rosanna? Was gibt's?«
»Hallo, Geoffrey. Entschuldige, dass ich störe …« Kaum hatte sie die Worte gesagt, biss sie sich auf die Lippen. Eine Floskel, aber für jemanden wie Geoffrey musste sie wie Hohn wirken. Wenn er einmal im Monat einen Anruf bekam, war das für ihn wahrscheinlich eine kleine Abwechslung, keine Störung.
»Oh, schon gut, in meinem Alltag gibt es nicht allzu viel, wobei du
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