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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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alles wirklich einigermaßen rational betrachten. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Reeve mich belog, als er von dem Mann in Elaines Leben berichtete. Es kann aber natürlich sein, dass Elaine vielleicht ein wenig aufgeschnitten hat. Vielleicht fand sie irgendjemanden in ihrem Umfeld interessant, hatte sich in ihn verguckt und bezeichnete ihn als Freund, obwohl derjenige gar nichts ahnte von seinem Glück. Das wäre doch auch denkbar.«
    »Aha. Ehe du es für möglich hältst, dass Marc Reeve lügt, muss Elaine diejenige sein, die …«
    »Geoffrey, mach dich doch mal von diesem Schwarz-Weiß-Denken frei. Ich sage ja gar nicht, dass Elaine gelogen hat. Aber vielleicht hat es in ihrem Alltag ein paar Tagträume gegeben. Mehr oder weniger haben wir die doch alle. Sie war eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren.
    Meinst du nicht, dass sie manchmal darüber nachgedacht hat, wie es sein müsste, einen Freund zu haben? Von einem Mann geliebt zu werden? Das ist doch normal.«
    »Sie hatte mich.«
    »Du bist ihr Bruder.«
    »Ich war ihr engster Vertrauter. Es gab nichts, was sie nicht mit mir besprochen hätte.«
    Und ich wette, dass du dich in diesem Punkt irrst, dachte Rosanna.
    Das Gespräch mit Geoffrey führte zu nichts. Reeve hatte ihr das am Vorabend prophezeit, als sie ankündigte, Geoffrey wegen des ominösen Freundes anrufen zu wollen.
    »Er wird das Gleiche sagen wie damals. Dass es ausgeschlossen ist. Dass Elaine keinerlei Geheimnisse vor ihm hatte.«
    Sie bat Geoffrey, sich ihre Handynummer wie auch die Telefonnummer ihres Hotels zu notieren und sie anzurufen, falls ihm doch etwas zum möglichen Liebesleben seiner Schwester einfiel. Geoffrey schrieb sich die Zahlen zwar auf, versicherte ihr dabei jedoch erneut, dass sie sich in einer völlig falschen Richtung verrenne.
    »Geoffrey, ich melde mich wieder«, sagte sie schließlich erschöpft, »ich halte dich auf dem Laufenden.«
    »Pass nur auf, dass Reeve dich nicht …«
    »Ich bin nicht blöd«, sagte sie kurz und legte dann sehr nachdrücklich den Hörer auf. Sie hatte Mitleid mit Geoff, aber er ging ihr auch auf die Nerven. Mit ihm zu sprechen hieß, gegen eine Felswand zu laufen.
    Nichts an diesem Mann bewegt sich, dachte sie, als ob er mit der Beweglichkeit seines Körpers auch die seines Geistes eingebüßt hätte. Seine Sicht der Dinge ist wie zementiert. So war es und nicht anders. Andere Möglichkeiten dürfen nicht einmal angedacht werden.
    Auf einmal fühlte sie sich müde und frustriert. Es tat weh, den Jugendfreund, den sie als einen so ganz anderen Menschen gekannt hatte, heute so verändert erleben zu müssen. Aber nicht nur das Telefonat machte ihr zu schaffen. Auch das Gespräch mit Robert vom Vorabend geisterte ihr im Kopf herum. Und die Tatsache, dass Dennis noch immer nicht versucht hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
    Sie fragte sich, ob die ganze Sache ein Fehler gewesen war. Elaines Geschichte wühlte sie mehr auf, als sie gedacht hatte. Mit den anderen Geschichten kam sie nicht voran, weil sie von ihrer persönlichen Betroffenheit im Fall Elaine regelrecht blockiert wurde. Ihre Ehe war in einer Krise, und ihr Stiefsohn litt unter ihrer Abwesenheit und schlug sich mit quälenden Ängsten herum. Sie selbst lebte in einem Hotelzimmer, und obwohl es ihr am ersten Tag noch als so komfortabel und luxuriös erschienen war, empfand sie es zunehmend als unpersönlich, kühl und beengend. Sie sehnte sich auf einmal nach den Gewohnheiten ihres Alltags, danach, sich in ihrer eigenen Küche einen Tee zu machen, die Waschmaschine zu füllen, das Wohnzimmer zu saugen oder im Garten herumzuwerkeln. Einkaufen zu gehen und sich zu überlegen, was sie für Dennis und Robert zum Abendessen kochen könnte.
    Sie starrte sich in dem Spiegel an, der über dem Schreibtisch hing.
    »Du bist ja nicht ganz gescheit«, sagte sie laut, »genau unter diesen Dingen und vor allem unter der Gleichförmigkeit, mit der sie abliefen, hast du doch so gelitten.«
    Sie sah den sorgenvollen Ausdruck in ihren Augen.
    Eine gute Journalistin muss eine innere Distanz halten zu den Themen, über die sie schreibt, dachte sie.
    Sie beschloss, hinauszugehen und ein Stück zu laufen. Es herrschte graues Schmuddelwetter, aber der Regen vom Vortag hatte aufgehört. Vielleicht brauchte sie einfach ein bisschen Bewegung. Aus Erfahrung wusste sie, dass es ihr guttat zu joggen, wenn sie sich gedanklich festgefahren hatte.
    Sie zog ihre Jogginghose, Laufschuhe und ein dickes Sweatshirt an,

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