Die Letzte Spur
Sie hatte ein kurzes schwarzes Strickkleid getragen und keinen Schmuck bis auf zwei kleine Perlen in den Ohren. Ihr braunes Haar war sehr kurz geschnitten und stand frech vom Kopf ab, in lauter kleinen Wirbeln, die sich offenbar nicht bändigen ließen. Dennis liebte lange Haare an Frauen, aber Rosanna standen die kurzen Haare so gut, dass man sich nichts anderes an ihr vorstellen konnte. Ihre Augen waren sehr dunkel, das dunkelste Braun, das er je gesehen hatte. Sie war absolut nicht sein Typ, aber er fand sie bildschön. Er hatte ein altmodisches Mädchen mit konservativen Wertvorstellungen gesucht. Rosanna sah jung, flippig, lebenshungrig und wild aus. Das einzig Altmodische an ihr war ihr Name, den sie, wie er später erfuhr, aus tiefster Seele hasste. Und Kingston St. Mary, das Dorf, aus dem sie stammte. Dort war die Welt noch in Ordnung. Das machte ihm Mut.
Er hatte sich Hals über Kopf in Rosanna verliebt. Er musste sie gewinnen. Für sich und für Rob. Es schien ihm in jener Nacht undenkbar, nach Gibraltar zurückzufliegen ohne die Hoffnung, dass sie ihm folgen würde.
Während seiner Wochen in London hatten sie einander noch ein paar Mal gesehen, was auf seine hartnäckigen Anrufe bei ihr und seine ununterbrochenen Einladungen ins Kino, zum Essen, ins Theater, auf einen Drink zurückzuführen war. Er hatte sich an sie geheftet und sie mit seinen Aufmerksamkeiten völlig überrollt. Von irgendeinem Moment an hatte er gespürt, dass ihr Interesse geweckt war, und schließlich begann sie seine Gefühle zu erwidern. Zwei Tage vor seiner Rückkehr nach Gibraltar hatte sie ihn über das Wochenende nach Kingston St. Mary eingeladen, das Dorf, von dem sie ihm so viel erzählt hatte. Er war fasziniert gewesen, denn stellenweise hatte man dort tatsächlich den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Die kleinen Häuschen, die Gärten, die selbst im Januar verrieten, wie gepflegt und blühend sie im Sommer aussehen mussten, die schmalen Dorfstraßen, die kleine Schule, an deren Fenstern überall Wichtelmänner und Blumen aus Papier klebten. Die steinerne Kirche mit dem romantischen Friedhof und den schönen, alten Bäumen. Die zu jener Jahreszeit zwar kahl waren, sich aber im Sommer wie ein wunderbar grünes, kühles Dach über den Toten wölben mussten, und er hatte Rosanna verstanden, als sie sagte: »Wo auch immer ich mein Leben verbringen werde – hier möchte ich auf jeden Fall beerdigt werden.«
Er lernte Victor und Hazel Jones kennen, ihre Eltern, und dankte Gott dafür, dass sie ihn auf Anhieb zu mögen schienen. Insgeheim sah er in ihnen schon seine künftigen Schwiegereltern. Er begriff, dass Rosanna in einer Familie aufgewachsen war, in der konservative Wertvorstellungen vermittelt worden waren, und darüber hinaus in einem Dorf, in dem die Kinder und Jugendlichen weitgehend behütet gewesen waren vor schädlichen Einflüssen. Natürlich hatte sie sich mit ihrem Londoner Journalistenleben ein ganzes Stück weit davon entfernt, und ihr Bruder, den Dennis zu diesem Zeitpunkt nur aus Erzählungen kannte, musste in New York wohl auf einer reichlich abschüssigen Bahn herumschlittern. Trotzdem gefiel ihm Rosannas Prägung. Er hatte das Alleinsein so satt. Er wollte endlich in einer richtigen Familie leben. Er meinte, auch im Hinblick auf Rob, den Schritt wagen zu können.
Als sie ihm Glastonbury zeigte, jenen magischen Ort in den Somerset-Ebenen, in dem der Sage nach Josef von Arimathäa dreißig Jahre nach Christus' Tod die erste britische Kirche gebaut hatte, fragte er sie in der Kathedrale, ob sie ihn heiraten wolle. Sie war sehr perplex gewesen, und als sie sich gefasst hatte, hatte sie gesagt: »Das geht ein bisschen schnell, findest du nicht?«
Damit war sie zwar ausgewichen, hatte aber nicht nein gesagt. Er wertete dies als vielversprechendes Signal. Und tatsächlich hatte er es schließlich geschafft. Sie war seinen Einladungen nach Gibraltar gefolgt, sie hatte die Ferien mit ihm und Rob verbracht, er und sein Sohn waren an Weihnachten bei ihrer Familie in Kingston St. Mary gewesen. Genau ein Jahr nach ihrem Kennenlernen hatten sie geheiratet. Er hatte sich als der glücklichste Mann der Welt gefühlt und war seither auch immer glücklich gewesen. Bis jetzt. Als plötzlich die Angst in ihm emporkroch, eine Angst, die ihm umso mehr zusetzte, als er sie nicht recht zu benennen wusste. Er fand keinen Mechanismus, sich gegen sie zu wehren, solange er nicht genau definieren konnte, woher sie rührte.
Weitere Kostenlose Bücher