Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
irgendwelche anrüchigen Absichten zu hegen?« Sie lächelte wieder. »Oder wirke ich jetzt altmodisch auf Sie?«
    Im Publikum entstand das Raunen, auf das Lee offensichtlich abgezielt hatte. Es war deutlich, dass sich die Zuschauer mit ihr solidarisierten und sie weder als naiv noch als altmodisch empfanden. Nein, man stimmte ihr völlig zu: Reeves Verhalten war im höchsten Maß verdächtig.
    »Er hat sie nicht angesprochen«, sagte Rosanna. »Die beiden sind zusammengestoßen, als …«
    »Oh«, unterbrach Lee, »das ist schon eine seltsame Geschichte, finden Sie nicht? Im Gedränge eines Flughafens oder auch nur in der Kantine hier im Sender stoße ich auch sehr häufig mit anderen Menschen zusammen. Auch mit Männern. Also, wenn ich jeden gleich mit nach Hause nähme …« Sie beendete den Satz nicht, lächelte aber vieldeutig. Das Publikum lachte.
    Rosanna begann sehr nachdrücklich etwas von der Aussichtslosigkeit zu begreifen, in der sich Marc Reeve damals den Medien gegenüber befunden hatte.
    Aber es war auch ein kritischer Punkt für mich, dachte sie, die Frage nach dem Warum . Warum hat er sie mitgenommen?
    Was hat sie in Ihnen berührt? , hatte sie ihn gefragt, gestern Vormittag erst, in dem kleinen Cafe, und zum ersten Mal schien er den Eindruck gehabt zu haben, dass ihm jemand die entscheidende Frage stellte.
    Sie entsann sich seiner Antwort.
    Ich hatte nicht das Gefühl, einfach nur einer weinenden Frau gegenüberzustehen. Eher kam sie mir vor wie ein… ja, wie ein Kind. Ein verlassenes, verzweifelt weinendes Kind. Ihre Verzweiflung riss mich mit, diese vollkommene Trostlosigkeit, diese Hoffnungslosigkeit. Sie schien nicht einfach wegen eines ausgefallenen Fluges oder einer ihr bevorstehenden Nacht in einer überfüllten Wartehalle zu weinen. Sie weinte um ihr ganzes Leben. Später, als sie mir von sich erzählte, begriff ich, dass ich richtig empfunden hatte. Sie befand sich in einer Sackgasse. In ihrem Leben war immer alles schiefgelaufen. Sie war der geborene Pechvogel, das geborene Mauerblümchen, der geborene Verlierer. Und dann tut sie einmal einen Schritt nach vorn. Einen für sie großen und gewagten Schritt. Sie nimmt eine Einladung nach Gibraltar an. Ignoriert die flehenden Bitten und all die mehr oder weniger subtilen Unterdrückungsinstrumente ihres Bruders. Reist zitternd und zagend tatsächlich bis London. Entschlossen, eine Wende in ihrem Dasein herbeizuführen. Mutig zu sein. Nicht länger im Schatten zu verharren, wo niemand sie sieht. Und was passiert? Nebel. Der Flug platzt. Sie verliert schon wieder. Ihr Leben läuft schon wieder schief. An 364 Abenden im Jahr starten die Flugzeuge von Heathrow, aber nicht dann, wenn Elaine Dawson davonfliegen will.
    Sie bricht zusammen. Der Eindruck, von jedem freundlichen Schicksal aussortiert zu sein, nimmt plötzlich fast obsessiven Charakter an. Sie fällt in einen unfassbaren Schmerz. Und rennt gegen einen zufällig daherkommenden Mann. Gegen mich unglücklicherweise.
    Sie haben gefragt, was sie in mir berührt hat? Ich glaube, den Beschützer. Den Vater. Ja, der Begriff Vater trifft es am besten. Bestimmt nicht den Mann. Ich hatte nicht die geringsten sexuell ausgerichteten Beweggründe, als ich sie mitnahm. Die hat man nicht gegenüber einem so herzzerreißend weinenden Kind. Ich jedenfalls nicht.
    Das war's. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Mehr werde ich nie dazu sagen können.
    »Rosanna?«, fragte Lee. »Sind Sie noch bei uns? Ich sagte gerade, dass ich …«
    Rosanna riss sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, Marcs Worte hier wiedergeben zu wollen. Sie würden an der gestylten Puppe neben ihr sicherlich abprallen. An dem wenig intelligenten Publikum ohnehin. Und zudem hätte sie zu viel von Elaine preisgegeben. Elaine verdiente es nicht, dass ihre persönliche Tragödie derart öffentlich ausgebreitet wurde.
    »Ich bin noch da«, sagte Rosanna, »und ich höre genau zu. Sie sagten gerade, dass Sie nicht jeden Mann, mit dem Sie zufällig zusammenstoßen, mit nach Hause nehmen.« Sie lächelte ebenso freundlich wie ihr Gegenüber und freute sich, dass ihre boshafte Betonung ein wütendes Blitzen in Lees Augen hervorrief. Sie selbst kam nun langsam in Fahrt. Sie hatte keine Lust mehr, sich von einer Lee Pearce vorführen zu lassen.
    »Wir sollten einfach ohne Vorurteile einen bestimmten Sachverhalt zur Kenntnis nehmen«, fuhr sie fort, ehe Lee einhaken konnte. »Eine tränenblinde Frau stolpert in eine Herrentoilette auf dem Flughafen. Ein

Weitere Kostenlose Bücher