Die Letzte Spur
Wie sollte man einen Gegner angreifen, den man nur als unklaren Schatten vor sich sah?
Er hörte die Haustür aufgehen und wandte sich um. »Rob?«, rief er. »Bist du das?«
Rob kam ins Wohnzimmer. Wie immer machte er ein mürrisches, verschlossenes Gesicht. Dennis fragte sich manchmal, wie sein Sohn wohl aussah, wenn er lächelte. Wusste er eigentlich noch, wie das ging? Oder brachten es diese Mundwinkel überhaupt nicht mehr fertig, sich nach oben zu verziehen statt nach unten?
Rob ging auf seine launige Art nicht ein. »Du bist schon da?«, fragte er und klang dabei alles andere als erfreut.
»Ich habe Kopfschmerzen. Deshalb habe ich früher Schluss gemacht.« Er überlegte einen Moment. »He, wie ist es? Wollen wir zwei Strohwitwer heute Abend zusammen irgendetwas essen gehen? Du darfst dir auch den Ort aussuchen. Wenn es nicht gerade McDonald's ist …«
»Ich denke, du hast Kopfschmerzen«, sagte Rob.
»Ich habe zwei Aspirin genommen. Sie sind besser geworden.«
Rob zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht …«
Dennis blieb geduldig. »Es war nur ein Vorschlag. Wollen wir uns Pizza hierher bestellen?«
»Ich hab eigentlich keinen Hunger.« Robs Gesichtsausdruck war deutlich zu entnehmen, was er damit eigentlich sagen wollte: Er hatte keine Lust, mit seinem Vater zusammen zu essen. Keine Lust, auch nur einen Moment des Abends mit ihm zu verbringen.
Es nützt einfach nichts, dachte Dennis, ich komme nicht an ihn heran.
»Überleg es dir«, sagte er, »ich bin offen für alles.«
»Alles klar«, sagte Rob. Er machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, aber dann blieb er doch stehen und wandte sich noch einmal zu seinem Vater um. Seine Miene war jetzt eine einzige Kriegserklärung.
»Ich wollte nur sagen … dass du es weißt … ich geh morgen zu der Party. Definitiv.«
Dennis begriff nicht sofort. »Welche Party?«
»Die von den Abschlussklassen. Die ist morgen Abend.«
»Darüber hatten wir gesprochen. Und darüber war auch alles gesagt.«
» Du hast alles darüber gesagt!«, zischte Rob. »Was ich denke, hast du dir überhaupt nicht angehört!«
»Ich habe mir alles angehört. Aber ich habe dir auch meine Bedenken genannt und dir ganz genau erklärt, weshalb ich nicht möchte, dass du dorthin gehst.«
»Ich gehe trotzdem. Alle gehen. Ich werde nicht als Einziger daheim sitzen, nur weil mein Vater ein…« Er stockte.
»Ja?«, fragte Dennis. »Sprich dich aus! Was ist dein Vater? Ein Spießer? Ein Blödmann? Ein Spaßverderber? Ein …?«
»Ein Nazi!«, sagte Rob mit einem Hass in der Stimme, vor dem Dennis fast körperlich zurückzuckte. »Ein richtiger Nazi!«
Dennis war eher verblüfft als wütend. »Ein Nazi?«
»Du machst alles nieder, was dir nicht passt! Du lässt keine Meinung gelten, nur deine. Du würdest am liebsten jeden einsperren, der nicht tut, was du sagst. Auch Rosanna hast du damit aus dem Haus gejagt!«
»Moment! Lass Rosanna bitte aus dem Spiel. Sie ist in England, weil sie einen interessanten beruflichen Auftrag hat. Sie ist nicht vor mir geflüchtet!«
»Sie kommt nicht wieder!«, schrie Rob. »Kapier es doch endlich, sie kommt nicht wieder! Sie hat die Schnauze voll von dir! Genau wie ich!«
Er stürmte davon, lief in sein Zimmer, knallte die Tür so heftig hinter sich zu, dass in der Küche ein Glas von der Spüle fiel und klirrend zerbrach. Dennis konnte hören, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Gleich darauf tobte Musik durchs Haus, dröhnten die Bässe.
Dennis stand wie vor den Kopf geschlagen. Robs Zorn hatte ihn erschüttert. Aber noch etwas anderes erschütterte ihn: Normalerweise wäre jetzt Wut in ihm hochgekocht. Er hätte an Robs Tür gerüttelt, hätte ihn zusammengebrüllt, hätte heftigste Sanktionen angekündigt.
Aber er konnte es nicht. Er war wie gelähmt. In einem einzigen Satz hatte Rob seine, Dennis', latente Angst formuliert und sie ihm rücksichtslos vor die Füße geknallt: Sie kommt nicht wieder! Kapier es doch endlich, sie kommt nicht wieder!
Er merkte, dass er zitterte. Er stellte sein Weinglas auf einen Tisch, sank auf das Sofa und stützte den Kopf in die Hände.
Und wenn Rob recht hatte?
Freitag, 15. Februar
Elaines Gesicht beherrschte die gesamte Rückwand im Studio. Es war das Gesicht der dreiundzwanzigjährigen Elaine, das Foto, das damals nach ihrem Verschwinden auch durch die Zeitungen gegangen war. Eine junge Frau, eigentlich ein junges Mädchen noch, mit großen ängstlichen Augen und einem verbitterten Zug
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