Die Letzte Spur
Vaters nach England geflogen, wäre aber schon einen Tag später zurückgekommen. Sie hätten den Valentinstag miteinander verbracht und wären jetzt am Abend irgendwohin zum Essen gegangen. Es hätte keinen Streit gegeben. Stattdessen …
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
Der 11. Januar 2003. Etliche Gäste waren nicht erschienen, denn die meisten ihrer Freunde kamen aus England, und wer nicht etwas verfrüht geflogen war, saß in Heathrow oder auf einem der anderen Londoner Flughäfen fest. Rosannas Mutter, die schon drei Tage zuvor eingetroffen war, hatte lamentiert, es sei eben auch einfach keine gute Idee, im Januar zu heiraten. Auch Rosanna hatte wieder damit angefangen. Sie war immer gegen diesen Termin gewesen. Sie hatte im Sommer heiraten wollen. Doch Dennis hatte sich durchgesetzt. Er hatte auf die Sommerhitze in Gibraltar hingewiesen (»Na und? Wir könnten doch in England heiraten!«, hatte Rosanna darauf erwidert, und er hatte gestöhnt: »Ja – am Ende noch in Kingston St. Mary, oder wie?«), und außerdem war er ein Romantiker und hatte den Tag ihres Kennenlernens zum Hochzeitstag machen wollen. Und kennen gelernt hatten sie sich nun einmal an einem 11. Januar – Rosannas Geburtstag.
Mit dem Romantik-Argument hatte er Rosanna letztlich umgestimmt. Und damit alles ein wenig versiebt. Die Feier fand in viel kleinerem Kreis statt als geplant; Rosanna weinte, weil ihr geliebter Bruder, von New York kommend, bei der Zwischenlandung in London ebenfalls ein Opfer des Nebels geworden war; immer wieder riefen Leute an, entschuldigten sich oder gaben ihre neuen Anreisetermine bekannt. Es war ein einziges Chaos und weit entfernt vom schönsten Tag des Lebens .
»Wenigstens sind wir verheiratet«, hatte er gesagt, als er und Rosanna irgendwann tief in der Nacht völlig ausgelaugt ins Bett getaumelt waren.
Sie hatte sich zur Seite gedreht und nicht geantwortet. Er hatte ihr die Hochzeitsfeier verdorben, was sicher nicht der beste Start war, den eine Ehe haben konnte. Er hatte sich damit getröstet, dass schon Ehen gescheitert waren, die glanzvoll und glücklich begonnen hatten. Man durfte einfach nicht abergläubisch sein.
Er hatte sich bei der Wahl seiner Partnerin ganz sicher sein wollen. Vor allem wegen Robert. Der Junge sehnte sich so sehr nach einer Mutter. Als Rob fünf Jahre alt gewesen war, hatte Dennis eine Frau kennen gelernt, mit der er zwei Jahre lang zusammengelebt hatte. Rob hatte sie vergöttert und vollkommen als Mutter angenommen. Sie hatte sich davon überfordert gefühlt, zugleich nicht gewusst, wie sie sich den Liebesbeweisen des Jungen entziehen sollte. Schließlich hatte sie einen anderen Mann kennen gelernt und erleichtert das Weite gesucht. Für Rob war eine Welt zusammengebrochen. Es hatte lange gedauert, bis er den Verlust verwunden hatte, aber es war deutlich spürbar eine dicke Narbe auf seiner Seele zurückgeblieben. Dennis hatte sich geschworen, dass so etwas nicht noch einmal passieren durfte. Entweder blieb er mit seinem Sohn allein, bis dieser erwachsen war. Oder er fand die Frau, die ihm hundertprozentige Sicherheit versprach. Wenn es diese überhaupt gab. Er hatte Rosanna ganz zufällig kennen gelernt, als er sich beruflich für vierzehn Tage in London aufhielt. Er wohnte in dieser Zeit bei einem alten Freund aus Studientagen, der inzwischen Redakteur bei dem Magazin Cover war. Gleich am Abend von Dennis' Ankunft war er zu der Geburtstagsparty einer Kollegin eingeladen, und, getrieben vom schlechten Gewissen, den Freund allein in der Wohnung herumsitzen zu lassen, hatte er ihn aufgefordert, doch einfach mitzukommen. Dennis hatte das peinlich gefunden und war sich aufdringlich vorgekommen, war aber schließlich widerwillig mitgegangen. Zum Glück hatte in Rosanna Jones' kleiner Wohnung ein solches Gedränge und ununterbrochenes Kommen und Gehen geherrscht, dass er gar nicht aufgefallen war. Irgendwann war er mit der Gastgeberin ins Gespräch gekommen. Sie hatte vor dem großen Fenster ihres Wohnzimmers gestanden, und hinter ihr, jenseits der Scheibe, waren dicke Schneeflocken langsam durch die Januarnacht auf die Straßen und Plätze Londons hinuntergeschwebt und hatten die Stadt in jene seltsame Stille eingehüllt, die nur frisch gefallener Schnee hervorzurufen vermag. Im Zimmer hatten ein paar Kerzen gebrannt, und die meisten Gäste waren schon gegangen. Es war weit nach Mitternacht gewesen.
Er konnte sich bis heute genau erinnern, wie sie ausgesehen hatte.
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