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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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meinem Aufbruch befiel mich etwas
wie Zweifel an meinem Optimismus, daß diesmal nichts Besonderes passieren
könnte. Wir wollten ein paar Fenster angucken, weiter nichts.
Selbstverständlich konnte einen die Nähe des Turmes nervös machen. Ich nahm mir
vor, nicht nervös zu werden. Warum auch? Entweder hatte sich Maria von ihrer
Ruhebank erhoben und schritt dem Haus zu. Oder Edeltraud kam von der anderen
Seite. Ich lauschte und hörte nichts mehr und ging weiter.
    Ich kam aus dem Schutz der Bäume heraus
in die Lichtung. Angestrengt sah ich ringsum. Außer mir war niemand in der
Nähe. Keine Spur von Edeltraud. Ich wollte nicht, aber ich mußte darüber
nachdenken. Was, zum Teufel, wenn ich sie in ähnlicher Verfassung vorfinden
würde wie Inge? Dann brauchte Bierstein mir nur noch eine Überweisung in die
Psychiatrie zu schreiben, geschlossene Abteilung. Dort war ich wenigstens vor
Nogees sicher.
    Unsinn.
    Das waren nur die klebrigen Schnäpse
der Stagg. Sanfte Neigung zum Delirium.
    Ich ging weiter zum Sockel. Die Pumpe
tuckerte. Ein zarter Windstoß fuhr mir ins Gesicht, als ich zur Treppe
herumbog. Auf meiner Uhr leuchteten die Ziffern. Kurz nach neun.
    Ich kletterte die Stufen hoch. Die
Plattform lag da wie ein riesiger Pfannkuchen. Ich machte mit den Händen einen
Trichter vor meinen Mund.
    »Fräulein Doktor! Mein Name ist
Cointreau!«
    Nicht das geringste zur Antwort. Sie
war noch nicht da.
    Ich ging auf den Spitzbogen zu und
wollte hinein. Kurz vorher warf ich noch einen Blick nach rechts und nach
links. Rechts war alles in Ordnung. Links nicht.
    Eine der Luken zum Wasserbassin, die
sich über Kreuz gegenüber war geöffnet. Der Lukendeckel war hintenüber geklappt
und ließ die dunkle Öffnung frei. Es war nicht die Luke über dem Schaltraum,
die kannte ich genau. Sie lag nach hinten hinaus.
    Einen Moment blieb ich stehen und überlegte,
ob es meine Sache wäre, das Ding wieder zuzumachen.
    Möglicherweise schon. Wenn es
tatsächlich anfing zu regnen, würde Wasser mit Blättern und allerhand Dreck ins
Bassin laufen.
    Sehr komisch, wenn aus meinem Hahn auf
einmal ein Laubfrosch herauskäme und Pfötchen gäbe.
    Ich ging auf die Luke zu. Hoffentlich
war Edeltraud nicht hineingefallen, vor allem dann, wenn sie noch den Rest
ihres Alkohols zu sich genommen hatte. Ich beugte mich über die Öffnung. Ein
kühler Hauch zog in meine Nase, mit einem kleinen Schuß Moder.
    »Ist da jemand drin?« fragte ich
albern.
    Es meldete sich keiner. Ich bückte
mich, um den Deckel anzufassen. Das Weitere geschah in der nächsten Sekunde.
    Ich hörte einen Laut hinter mir, als
nähme ein Tiger Anlauf zum Sprung. Blitzartig wurde mir klar, daß das nichts
Gutes bedeutete. Ich fand noch Zeit, mich aufzurichten, aber keine mehr, mich
umzudrehen. Ein Stoß traf mich in den Rücken wie von einer Axt. Ich taumelte
nach vorn. Meine Schuhe rutschten ab über den Rand. Es war sinnlos, mit einem
verzweifelten Schritt nach vorn noch die andere Seite der Luke erreichen zu
wollen. Meine Füße waren schon zu tief. Ich warf den Oberkörper vorwärts, aber
ich unterschätzte die Entfernung in der Finsternis. Nur die Ellenbogen schlugen
krachend auf die Kante. Mein Gewicht riß mich nach unten.
    Die letzte Hilfe waren die Hände, ich
fand keinen Halt damit, sie rutschten über den Stein, und die rauhe Härte riß
mir die Haut von den Ballen. Für einen Atemzug konnte ich mich mit den Fingern
halten. Dann trat der Mörder, den ich finden wollte, mit grausamer Gewalt auf
meine Finger. Ich ließ los und glitt endgültig ab. Lotrecht sauste ich in den
steinernen Kessel. Ich flog unendlich lange, ich glaubte es wenigstens, aber
dann schlug ich auf das Wasser auf mit einem Dröhnen, lauter als irgendein
Geräusch, das ich jemals gehört hatte. Mein Gesicht schlug wie auf Eis. Ein
paar Herzschläge lang blieb der Körper trocken. Dann griff die Nässe nach
meiner Haut, nach jedem Stück von ihr. Ich mußte unermeßlich tief unter Wasser
sein.
    Ich hatte nicht viel Luft. Einatmen war
nicht mehr drin gewesen. Ich hatte jeden Richtungssinn verloren und machte
planlose, zappelnde Schwimmbewegungen. Das Blut begann zu pfeifen in meinen
Ohren und preßte meine Brust auseinander.
    Dann spürte ich, wie ich mit der
rechten Hand durch die Luft schlug. Kein Wasser mehr über mir. Mein Kopf schoß
hinaus. Ich schluckte Sauerstoff. Ich war oben. Ich war wieder oben.
    Deutlich konnte ich fühlen, wie ich vom
Reflexwesen wieder zu einem denkenden wurde. Man

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