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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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hatte mich durch die Luke
gestoßen. Eine heiße Wut erfaßte mich, aber sie hielt sich nicht lange in der
Kälte. Es gab ein wichtiges Problem, genauer gesagt zwei. Nicht zu ertrinken
und wieder herauszukommen.
    Der Schreck war vergangen. Ich wurde
ruhiger. Nur nicht durchdrehen, Johannes. Das Wichtigste zuerst.
    Das Wichtigste waren die Schuhe. Sie
mußten runter. Ich hätte niemals geglaubt, die Kenntnisse des
Lebensrettungskurses noch einmal verwenden zu können. Jetzt konnte ich. Ich
tauchte mit dem Kopf, bog mich zusammen, zog die Beine an. Die Schnürsenkel
waren verquollen und fest wie Eisendraht. Völlig sinnlos, sich damit abzugeben.
Ich riß an den Absätzen, erst links, dann rechts. Es war, als wollten die
Schuhe sich auf keinen Fall von mir trennen, besonders der rechte. Nach
dreimaligem Anlauf löste sich auch dieser vom Fuß und versank. Ich pustete und
schnaubte, kam nur langsam mit der Atemluft wieder ins Gleichgewicht.
    Mein Sommeranzug war leicht und aus
dünnem Stoff. Jetzt war er viermal so schwer und pappte klebrig. Ich wußte, daß
man im kalten Wasser die Kleidung lieber anbehalten sollte, um das Auskühlen
hinauszuschieben. Aber das Schwimmen wurde schwerer und kostete Kraft. Ich kam
zu dem Kompromiß, die Hose abzustreifen und die Jacke anzubehalten, solange es
ging. In der Jacke waren meine Papiere, schön würden sie nicht mehr aussehen,
aber ich wollte sie behalten und nicht daran denken, daß ich sie vielleicht nie
mehr brauchen würde.
    Auch der Gürtel ging nur schwer auf.
Dafür kam ich mit den Händen besser hin als zu den Füßen. Die Knopfleiste riß
ich auseinander. Dann war auch die Hose weg. Es schwamm sich leichter. Ich
legte mich auf den Rücken. So konnte ich es lange aushalten, das wußte ich. Ein
bißchen Paddeln mit Armen oder Beinen genügte, um den Körper an der Oberfläche
zu halten. Schlimmer war die Kälte. Wieder wollte ich nicht an den Gedanken
heran. Es war fast spannend, mit sich selbst zu wetten, was mich eher zum Auf
geben zwingen würde: Kälte oder Ermattung.
    Nach ein paar Schlägen mit den Beinen
stieß ich mit dem Kopf an glitschiges Mauerwerk und erschrak furchtbar. Als
Kind hatte ich mich oft vor der Vorstellung gefürchtet, in einem dunklen,
unbekannten Gewässer schwimmen zu müssen, in dem Krokodile oder Riesenpolypen
lebten. Unter keinen Umständen hatte ich Taucher werden wollen. Jetzt hatte ich
das Ziel meiner Sehnsucht erreicht. Immerhin — Meeresungeheuer würden sich
nicht im Trinkwasser herumtreiben. Ich stieß mich ab und kam frei von dem
Stein. Ich merkte, wie meine Augen sich auch an die fast vollständige
Dunkelheit gewöhnten. Ein ganz schwacher Lichtschimmer war über mir, viereckig.
Eine der Luken. Ein paar Meter weiter nach rechts konnte ich die zweite
erkennen. Wie hoch über mir mochten sie sein?
    Langsam gewann ich Orientierung. Ich paddelte
behutsam, bis ich wieder die Mauer berührte. Sie wölbte sich konkav nach außen,
es mußte die Einfassung des Bassins sein. Vielleicht ließ sich ein Vorsprung,
eine Kante oder ein Griff finden, die Halt boten. Ich trieb weiter an der Mauer
entlang. Feucht, glatt, eiskalt. Nichts zum Festhalten. Mir fiel auf, daß ich
vorhin anderes Mauerwerk berührt haben mußte. Ich hatte mich in
entgegengesetzter Richtung abgestoßen, dann die Außenmauer erreicht. Es blieb
nur die Möglichkeit, daß der Turm nach unten durchgebaut war und in der Mitte
des Bassins auf dem Erdboden ruhte.
    Ganz leicht federte ich mit den Füßen
von der Mauer ab und hielt die Arme nach hinten ausgestreckt. Es kostete
Überwindung, war aber sehr aufregend. Tatsächlich. Die Steinmasse, an die ich
stieß und die ich langsam umkreiste, konnte nur der Stützpfeiler des Turmes
sein. So weit war es gekommen, daß ich ihn auch von dieser Seite kennenlernte.
    Der Sockel war vollständig glatt.
Nichts, woran man sich halten und ausruhen konnte. Ich mußte zurück zur Mauer
und dort weitersuchen. Einiges von seiner Unheimlichkeit hatte das Bassin schon
verloren. Wenn das Wasser wärmer gewesen wäre, hätte man die Sache fast als
lustig bezeichnen können. Ich konnte jetzt schon die Entfernung zur Mauer
richtig abschätzen und berührte sie genau in dem Augenblick, in dem ich es
erwartet hatte. Mit einiger Fahrt paddelte ich weiter daran entlang, und dann
kam der Schreck zum zweitenmal und jagte eine siedende Welle durch meine
Glieder. Ich war an ein steinernes Hindernis gestoßen. Gleichzeitig hörte ich
ein dumpfes, polterndes

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