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Die letzte Visite

Die letzte Visite

Titel: Die letzte Visite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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Ihre Fenster sind?«
    »Dann weiß ich ehrlich gesagt nicht,
was Anna oder sonst jemand dort gesucht haben könnte. Pornographische Magazine
führe ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr und Plastikbomben auch
nicht.«
    »Sei’s drum... sei’s dri... neutrum«,
sprach die Staggin in klassischem Latein, »ich bin mit von der
Bergsteigerpartie. Wann soll es losgehen?«
    »Wenn es dunkel ist, denke ich. Dann
sind die damaligen Bedingungen wiederhergestellt. Treffen wir uns oben?«
    »Ja, wann?«
    »Würde sagen, um neun.«
    Neun Uhr, Inge!
    Im ersten Moment wollte ich eine andere
Zeit vorschlagen, aber ich ließ es.
    Die Zeit bis zum Abendbrot verging
langsam, und die danach noch langsamer. Bis halb neun brachte ich sie damit
herum, meinen Rasierapparat von Bartborsten zu befreien und einem betagten
Onkel einen Geburtstagsbrief zu schreiben. Dann waren sämtliche Möglichkeiten
nützlicher Tätigkeit erschöpft. Ich sah aus dem Fenster. Niemand war zu sehen,
auch Edeltraud nicht.
    In der Hoffnung, sie schon unterwegs zu
treffen, machte ich mich auf. Ich ging wieder ein paar Umwege durch den
dunkelnden Park, wie damals auf der ersten Entdeckungsreise. Zwischendurch
fragte ich mich, warum ich eigentlich Edeltraud nicht abgeholt und mit ihr
zusammen den Weg angetreten hätte. Wäre das Natürlichste gewesen. Ja, doch,
doch. Aber die Patienten lauerten an den Fenstern und dachten sich sonst was,
wenn man miteinander im Park verschwand. War ja nicht nötig. Nach einiger Zeit
gestand ich mir ein, daß mir der Gedanke unangenehm war, Petra könnte bemerken,
wie ich mit der Stagg zum Turm wandelte. Sicher war es Quatsch, aber Mädchen
sind manchmal komisch. Hinter dieser Erkenntnis stand wiederum die Einbildung,
daß Petra etwas von mir hielte. Hoffentlich tat sie das.
    Ich erreichte die Hälfte der Rückseite
des Berges. In dieser Gegend stand links am Wegrand eine Bank in einer
laubenartigen Nische von Büschen. Ich sah sie und gleichzeitig eine weiße,
dickliche Gestalt mit Häubchen. Edeltraud trug keins.
    Ich erkannte Schwester Maria von Pinkus’
Station erst, als ich bis auf wenige Meter heran war. Sie sah mir ohne
Überraschung entgegen.
    »Ah, Sie sind auch ein Liebhaber des
abendlichen Parks, Schwester Maria?« fragte ich ohne sonderliche Intelligenz.
    Sie nickte behäbig.
    »So ist es, Herr Doktor. Den ganzen Tag
steht man in der Krankenhausluft. Da tut ein Abendspaziergang gut.«
    »Das ist haargenau meine Absicht. Ich
klettere gern auf den Turm, wissen Sie. Mich wundert, daß ich Sie noch nie hier
gesehen habe.«
    »Ach, ich bin nicht immer zur gleichen
Zeit hier. Es kommt ganz darauf an, wie man fertig wird.«
    Das ›man‹ schien sie zu schätzen.
    »Natürlich, natürlich. Sie haben sicher
mehr zu tun als ich im Röntgen.« Jede Schwester hört so was gerne. »Gehen Sie
nicht zum Turm hinauf?«
    Ihre Stimme wurde leicht weinerlich.
    »Nicht mehr, Herr Doktor. Früher ging
ich häufig, aber man ist nicht mehr die Jüngste. Das Herz, wissen Sie, und dann
— seitdem das passiert ist mit der Oberschwester und mit der kleinen Inge — nein,
da möchte ich schon gar nicht mehr hinauf!«
    Das konnte ich ihr nachfühlen.
    »Ja, ja, mir ist auch langsam etwas
unheimlich, aber man hat einen sehr hübschen Blick von da oben...« Jetzt fing
ich auch schon mit dem ›man‹ an. »Ach, haben Sie zufällig Fräulein Doktor von
Stagg hier gesehen?«
    »Nein, Herr Doktor. Es ist niemand
vorbeigekommen, außer Ihnen.«
    »Aha. Sie wollte nämlich auch hinauf.
Na, vielen Dank, Schwester Maria. Und atmen Sie recht tief!«
    Ich nickte ihr zu. Ergeben senkte sie
die Haube. Ich setzte meinen Weg fort.
    Bißchen wunderlich, daß sie auf einmal
abends hier herumsaß. Aber warum sollte sie nicht? Durchaus möglich, daß ich
sie nie getroffen hatte. So oft war ich schließlich noch nicht im Park gewesen.
    Ich erreichte die Abzweigung, die zum
Turm führte. Es war jetzt ziemlich finster, und ich lobte wieder einmal meine
Röntgenaugen, die mir einigermaßen verläßlich den Weg zeigten. Es war
totenstill auf dieser Seite des Berges. Deswegen vernahm ich den schwachen,
fremden Laut um so deutlicher. Der Schall von Schritten klang leise tappend aus
irgendeiner Richtung.
     
     
     

VII
     
    Ich blieb stehen und horchte. Es war
unmöglich auszumachen, wo das Geräusch herkam. Es konnte noch weiter weg,
ebensogut auch näher sein, als ich vermutete. Der Wald fing es auf und leitete
es weiter, wie er wollte. Zum erstenmal seit

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