Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
die mir in die Augen stiegen. Warum fragte sie mich nicht, was eigentlich mit mir los war?
» Sag Ja, Mom! « , schrie ich sie an. Vielleicht würde das ja funktionieren. » Es ist ganz einfach, ich mach’s dir vor: Ja. Einfach so. «
» Amelia, bitte « , erwiderte sie ruhig. » Ich sage ja gar nicht von vorneherein Nein. Du weißt, dass ich dir immer zuhöre. « Sie war schon auf dem Weg zur Haustür. » Aber jetzt geht es leider nicht. Wenn ich erst mal mehr über das Programm weiß, sehe ich die Sache vielleicht schon ganz anders. Das heißt, wir brauchen Zeit, um über das Thema zu reden. «
» Die brauchen heute eine Antwort, Mom. «
Sie drehte sich noch einmal um. » Wenn die heute eine Antwort brauchen, dann lautet die Antwort Nein. «
» Super « , murmelte ich. » Echt großartig. «
Sie holte tief Luft und schaute an die Decke.
» Ist alles in Ordnung, Amelia? « , fragte sie, die Hand am Türknauf. » Denn ich habe Stress in der Kanzlei, und ich muss jetzt los. Aber wenn du mich brauchst, kann ich auch bleiben. Das weißt du doch, oder? «
Doch auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich wusste. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Ich war wütend auf sie gewesen, weil sie mich nicht fragte, was mit mir los war, und jetzt, wo sie es tat, hatte ich keine Lust mehr, ihr etwas zu erzählen. Denn was hätte sie schon tun können? Nichts. Alles, was sie tun könnte, würde es nur noch schlimmer machen. Da war ich mir ganz sicher. Ich wollte nur noch heulen. Allein.
» Nein, ist schon gut « , sagte ich. » Schule ist einfach Scheiße im Moment. «
Meine Mom kam noch einmal zurück und nahm mich in den Arm. Sie drückte mich so fest, dass ich dachte, sie bricht mir alle Knochen. Oder vielleicht hab ich mich auch so fest an sie geklammert.
Dann ließ sie mich los und lief zur Tür.
» Alles wird mit der Zeit leichter, glaub mir « , sagte sie zum Abschied. » Das tut es immer. «
Dr. Lipton saß auf einem Stuhl in der Ecke ihres Zimmers, als ich an die offene Tür klopfte. Sie las in einem Ordner, der aufgeschlagen auf ihren Knien lag. Die Sonne fiel durch das Fenster hinter ihr und ließ ihre Haut durchsichtig erscheinen. Sie zuckte dermaßen zusammen, als sie mein Klopfen hörte, dass ich auch erschrak.
» Tut mir leid « , sagte ich, während ich mich fragte, was ich eigentlich hier wollte. Ich hatte mich noch nie an einen Vertrauenslehrer gewandt. Aber ich musste mit irgendjemandem reden, und zwar mit jemandem, der das, was ich sagte, für sich behalten würde. » Ich, äh… soll ich lieber später noch mal wiederkommen? «
» Nein, nein « , sagte sie. Doch sie sah mich an wie eine Fremde, die gerade gefragt hatte, ob sie mal in ihr Butterbrot beißen dürfte. » Komm rein. Setz dich. «
Sie klappte den Ordner zu und legte ihn vorsichtig auf den Tisch neben sich.
» Was kann ich für dich tun? « , fragte sie und nahm einen Terminkalender vom Regal hinter sich. » Wir hatten doch keinen Termin, oder? « Sie fuhr mit dem Finger über die Seite. » Du bist Amy, nicht wahr? «
» Amelia. Nein, ich hatte keinen Termin. Soll ich einen ausmachen? « Das war auf jeden Fall ein Fehler. » Ich kann ein andermal wiederkommen. «
Dr. Lipton sah mich lange an, total reglos wie eine Echse. Ich wartete darauf, dass ihre Zunge rausgeschossen kam und an meiner Wange kleben blieb.
» Na ja, jetzt bist du ja schon mal hier « , sagte sie. » Und ich sehe dir an, dass du aufgewühlt bist. «
» Ist das, worüber wir hier reden, vertraulich? « , fragte ich, immer noch in der Tür.
» Ja « , sagte sie. Jetzt war sie neugierig geworden. » Komm doch erst mal rein und erzähl mir, was du auf dem Herzen hast, Amelia. «
Ich ging ins Zimmer. Es war hell und schön eingerichtet mit einem gemütlichen kleinen Sofa. Zu gemütlich. Als würde man in so eine Art Seelenklempnerstrudel gesogen, sobald man sich daraufsetzte.
» Mach die Tür zu, bevor du dich setzt « , sagte sie, und ich tat es, obwohl mir die Vorstellung, in dem Zimmer eingeschlossen zu sein, unheimlich war. Ich setzte mich. Meine Hände waren eiskalt, als ich sie auf meinem Schoß verschränkte.
» Also, was ist los? «
Ich saß einfach stumm da, bis mir vor lauter Anspannung fast schlecht wurde.
» Jemand hat irgendwie mit mir Schluss gemacht. «
» Irgendwie? «
» Na ja, sie ist weggegangen, und jetzt redet sie nicht mehr mit mir. «
» Ablehnung ist immer schwer zu verkraften « , sagte Dr. Lipton ruhig. Sie hatte
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