Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
sie sich das alles nur eingebildet hatte.
» Am besten, Sie halten Ihre Tür geschlossen « , sagte Beatrice. » Sonst werden sich die Geier auf Sie stürzen, und bis Mittag ist nur noch ein Skelett von Ihnen übrig. «
Beatrice zuckte zusammen, als hätte sie sich wegen ihrer Bemerkung auf die Zunge gebissen. Kate hätte ihr gern gesagt, sie solle sich keine Gedanken machen, es sei alles in Ordnung, aber sie konnte an nichts anderes denken als an die SMS .
Amelia ist nicht gesprungen.
Die Nachricht war besonders grausam, wenn man bedachte, wie lange Kate gebraucht hatte, um zu akzeptieren, dass Amelia tatsächlich gesprungen war. Die Vorstellung, dass Amelia beim Schummeln erwischt worden war– noch dazu bei einem Englischaufsatz–, war das Absurdeste von allem. Die Information von Detective Molina, die vorläufigen Untersuchungsergebnisse würden alle eindeutig auf Suizid hinweisen, hatte sie nicht überzeugt. Zumindest anfangs nicht.
Kate hatte einen Schuldigen gesucht, und die Schule war ihr Spitzenkandidat gewesen– ein schadhaftes Schloss auf dem Dach, nachlässige Aufsicht, grundsätzlich gefährliche Bedingungen. Kate hatte über die Möglichkeit nachgedacht, dass Amelia gestoßen worden war, sie aber nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Dass jemand Amelia hätte etwas antun wollen, war fast ebenso undenkbar wie die Vorstellung, dass Amelia sich selbst etwas angetan haben sollte.
Detective Molina wiederum hatte seine Ermittlungen durchgeführt– er hatte Amelias Zimmer durchsucht und mit ihren Lehrern und Freunden gesprochen, er hatte ihren Computer und ihr Handy überprüft, er hatte nach irgendetwas gesucht, das einen Sturz hätte verursacht haben können, wie zum Beispiel ein Loch im Boden oder etwas, worüber Amelia womöglich gestolpert sein könnte. Er hatte auch nach Anzeichen für einen Kampf gesucht. Aber er hatte nichts gefunden außer dem sorry an der Wand. Eine Woche später hatte Molina Kate angerufen und ihr mitgeteilt, dass der Gerichtsmediziner Suizid als Todesursache bestätigt hatte. Und damit stand fest: Amelia hatte sich das Leben genommen.
Die ganze Untersuchung hatte neun Tage gedauert. Neun Tage, bis man ihr erklärte, dass die Tochter, die ihre beste Freundin gewesen war, die Tochter, die sie großgezogen und geliebt hatte, mit der sie zusammen geweint und gelacht hatte, eine Person gewesen war, die Kate überhaupt nicht gekannt hatte. Dass ihre Tochter von einer tiefen Traurigkeit erfüllt gewesen war, die sie in den Freitod getrieben hatte, ohne dass Kate etwas davon mitbekommen hatte.
Man hatte ihr sogar eine praktische Erklärung dafür geliefert: impulsiver Suizid. Das kam häufiger vor, als man annehmen würde, hatte Dr. Lipton, die Schulpsychologin, ihr versichert. Offenbar beschlossen regelmäßig alle möglichen Menschen ganz spontan, sich das Leben zu nehmen, und setzten den Entschluss innerhalb weniger Stunden in die Tat um. Es wurden vorher keine Lieblingsdinge verschenkt, und es wurde auch kein Abschiedsbrief hinterlassen wie in den Filmen, die in Kates Jugend regelmäßig im Nachmittagsprogramm gelaufen waren. Nach Meinung von Dr. Lipton konnte die Tatsache, dass Amelia beim Schummeln erwischt worden war, ein typischer Auslöser gewesen sein, vor allem, falls Amelia vorher schon unter emotionalem Stress gestanden hatte– wegen Problemen mit einer Freundin, einer Trennung oder Ärger zu Hause. Allein der ganz normale emotionale Stress des Teenagerlebens hätte schon ausreichen können, um eine solche Reaktionskette in Gang zu setzen.
» Sind Sie ganz sicher, dass es Ihnen guttut, hier zu sein? « , fragte Beatrice. Sie wirkte jetzt noch besorgter, wahrscheinlich, weil Kate reglos dasaß und stumm auf den Boden starrte. » Den Eindruck machen Sie auf mich jedenfalls nicht. «
Ehe Beatrice auf eine Antwort drängen konnte, klopfte es, und dann wurde die Tür geöffnet. Hinter Beatrice stand Jeremy. Er trug einen eleganten, marineblauen Anzug und eine gestreifte Krawatte, die seine blauen Augen betonte. Kate hatte ihn seit der Beerdigung nicht mehr gesehen, aber sie hatten mehrmals telefoniert, und Jeremy hatte ihr mehrere E-Mails geschrieben– kurz und knapp, aber sehr mitfühlend–, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
» Hallo « , sagte er leise, ohne einzutreten.
» Hallo « , sagte Kate und bemühte sich, sich zusammenzureißen.
» Du bist also wieder da. «
» Ja, ich bin wieder da. «
Während sie einander anschauten, spürte Kate, wie
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