Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
blauen Flecken übersät, während sie den Blick über die vollgestopften Bücherregale wandern ließ, die fast alle Wände in Amelias Zimmer bedeckten.
Amelia hatte mit vier schon lesen können, und von da an hatte sie immerzu ein Buch in der Hand gehabt. Sie las in der Badewanne, beim Spazierengehen, abends im Bett. Selbst die vielen Regale hatten nicht alle Bücher aufnehmen können, mit denen Amelia sich umgeben hatte. Sie stapelten sich überall auf dem Boden. Kate hatte manchmal befürchtet, dass Amelias Lesewut ein Zeichen von Einsamkeit sein könnte. Dass sie vielleicht, wenn sie Geschwister oder wenigstens einen Vater gehabt hätte– oder wenn Kate nicht so viel gearbeitet hätte–, mehr Interesse an realen Menschen als an Romanfiguren entwickelt hätte.
Jetzt kam ihr diese Sorge beinahe albern vor, erst recht, als sie die einzige Wand betrachtete, an der keine Bücherregale standen. Sie war mit Fotos bedeckt– Amelia als kleines Mädchen mit Leelah, Amelia mit ihrem Hockeyteam, mit Freunden im Sommercamp. Mit Kate. Ein großes Foto zeigte Amelia mit Sylvia als Elfjährige auf einer Klassenfahrt nach Washington, an der Kate als Begleitperson teilgenommen hatte. Es war eine der sehr seltenen Gelegenheiten gewesen, an denen Kate sich für einen Schulausflug von ihrer Arbeit hatte freimachen können. Und es war großartig gewesen, bis auf das ungute Gefühl hinterher, dass alle anderen Eltern, die dabei gewesen waren– selbst die voll berufstätigen–, schon jede Menge derartiger Klassenausflüge mitgemacht hatten.
Aber jetzt war nur wichtig, dass Amelia auf den Fotos glücklich aussah. Auf jedem einzelnen. Ihre kleine Familie mochte nicht das gewesen sein, was Kate sich gewünscht hätte, doch das hatte Amelia nie gestört. Zumindest nicht bis wenige Wochen vor ihrem Tod, als sie plötzlich angefangen hatte, nach ihrem Vater zu fragen.
» Soll das im Ernst heißen, dass du ihm nie von mir erzählt hast? « , hatte Amelia eines frühen Morgens gefragt, nachdem sie Kate geweckt hatte. » Ich meine, hast du nicht mal versucht, ihn zu finden? «
» Wen? «
» Hallo? Meinen Dad. « Amelia hatte die Arme vor der Brust verschränkt. » Du weißt schon, den Hippie mit der Gitarre, der sich nach Afrika abgesetzt hat. Den Typen, den du angeblich an einem dunklen, stürmischen Abend in einer Kneipe in der Nähe der Columbia Uni kennengelernt hast. Gab es damals in der Gegend überhaupt Kneipen? War das nicht das reinste Kriegsgebiet? «
Kate schaute auf ihren Wecker, dann zu Amelia, dann wieder auf ihren Wecker. 7:15 Uhr an einem Sonntag. Nicht zu fassen. Sie wollte diese Fragen nicht von Amelia hören, jedenfalls nicht in dem Augenblick. Sie hatte immer gewusst, dass Amelia sich irgendwann, wenn sie einmal alt genug war, nicht mehr mit der dürftigen Geschichte zufriedengeben würde, die Kate ihr über ihren Vater aufgetischt hatte. Aber es war noch zu früh. Kate hatte sich noch gar nicht überlegt, was sie ihrer Tochter erzählen sollte. Die Wahrheit schien ihr immer noch nicht in Frage zu kommen. Eine vage Lüge, die sie einem kleinen Kind erzählt und über die Jahre durch beharrliches Schweigen aufrechterhalten hatte, war allerdings etwas anderes als eine neue Lüge. Eine, die sie ihrer halbwüchsigen Tochter ins Gesicht würde sagen müssen.
» Wieso bist du überhaupt schon auf, Amelia? « , hatte Kate gefragt, um Zeit zu gewinnen. » Können wir nicht später darüber reden? Ich bin wirklich hundemüde und du bestimmt auch. «
» Später, na sicher. « Amelia klang sauer, aber es lag auch noch etwas anderes in ihren Augen– Angst, Sorge. Es drehte Kate den Magen um.
» Amelia, was ist los? « , fragte Kate und setzte sich auf. » Ist irgendwas passiert? «
» Nein « , sagte Amelia und schürzte die Lippen. Sie wandte sich ab, den Blick in die Ecke des Zimmers geheftet. Kate schaute ihre Tochter an in der Hoffnung, Amelia würde ihr erzählen, was sie dazu gebracht hatte, in aller Herrgottsfrühe an ihrem Bett zu erscheinen und Antworten zu verlangen. » Nichts ist passiert. Außer, dass ich es satthabe, darauf zu warten, dass du mir endlich die Wahrheit sagst. «
Kate spürte jedoch, dass das noch nicht alles war. Aber wollte sie den Rest wissen? Die ehrliche Antwort lautete nein. Sie wollte es nicht.
» Amelia, ich weiß nicht, was du… «
» Echt, Mom, hör doch auf « , sagte Amelia mit zitternder Stimme. Sie schaute aus dem Fenster. Hauptsache, sie musste Kate nicht ansehen. » Willst
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