Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
gebracht, das Zimmer zu betreten. Die Kleider, die Amelia im Sarg getragen hatte, hatte Seth ausgesucht. Er hatte sogar ein bisschen aufgeräumt– einen halb aufgegessenen Apfel entsorgt, die schmutzigen Sachen in die Wäsche geworfen, das Bett gemacht–, damit Kate sich Zeit lassen konnte, bis sie sich stark genug fühlte, um in das Zimmer ihrer Tochter zu gehen. Seitdem war die Tür zugeblieben. Aber auch jetzt fühlte sie sich nicht in der Lage, sie zu öffnen. Sie stand da, die Hand am Türknauf, während ihr Magen sich verkrampfte.
Seit sie die SMS mit der Nachricht erhalten hatte, Amelia sei nicht gesprungen, kreisten ihre Gedanken nur noch darum, dass sie sich aktiv an den Ermittlungen hätte beteiligen sollen. Wie hatte sie das alles einem Detective überlassen können, der offenbar viel mehr daran interessiert war, den Fall abzuschließen, als der Wahrheit auf den Grund zu gehen? Sie hätte Amelias Sachen selbst durchsehen sollen. Sie hätte sich die richtigen Fragen zurechtlegen und den Mut aufbringen sollen, sie auch zu stellen, egal, wie sehr alle hofften, dass sie die Ruhe bewahrte und den Mund hielt. Egal, wie schuldig sie sich gefühlt hatte. Stattdessen hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen und in Trauer gehüllt und eine Erklärung für den Tod ihrer Tochter hingenommen, die sie im Grunde ihres Herzens nie wirklich akzeptiert hatte. Denn alles auszublenden war einfacher gewesen, als zu kämpfen. Es war ihre einzige Möglichkeit gewesen zu überleben.
Jetzt war es anders. Kate fühlte sich stärker als kurz nach Amelias Tod. Zwar nicht viel, aber doch ein bisschen. Und sie würde Kraft brauchen. Denn so schrecklich es auch gewesen war zu akzeptieren, dass Amelia sich das Leben genommen hatte, es konnte noch schlimmer kommen.
Sie holte tief Luft und drehte den Knauf. Doch bevor sie die Tür öffnen konnte, klingelte das Telefon. Sie atmete erleichtert auf und eilte in ihr Schlafzimmer, um das Gespräch anzunehmen, stellte jedoch fest, dass das Telefon nicht in der Basisstation stand. Dann wurde ihr bewusst, dass das Klingeln von unten kam, wo sie das Telefon anscheinend liegen gelassen hatte. Sie rannte die Treppe hinunter, froh, von Amelias Zimmer wegzukommen. Als sie das Telefon vom Küchentisch nahm, schaute sie einen Moment lang völlig verblüfft auf das Display. NYPD stand da. Die Polizei hatte sich schon lange nicht mehr bei ihr gemeldet. Und ausgerechnet heute rief man sie an? Das konnte kein Zufall sein. Vielleicht hatte die Polizei ja dieselbe Nachricht erhalten wie sie.
» Hallo? «
» Ms Baron? Hier spricht Detective Molina. «
» Ja, hallo, ich bin’s, Kate. « Sie wappnete sich. Sosehr sie hoffte, Molina würde Neuigkeiten über Amelia haben, sosehr fürchtete sie sich davor. » Gibt es… Haben Sie neue… Wie geht es Ihnen? «
» Ehrlich gesagt, ging’s mir schon mal besser « , antwortete er. » Im Moment frage ich mich, warum ich aus heiterem Himmel Klagen über meine Arbeit am Fall Ihrer Tochter zu hören bekomme. Falls Sie nicht zufrieden waren, Sie haben doch meine Nummer. «
Jeremy hatte sich also schon mit dem Polizeichef in Verbindung gesetzt? Kate wusste selbst nicht, warum sie das überraschte. Jeremy machte in der Regel keine leeren Versprechungen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass etwas dabei herumkommen würde, erst recht nicht innerhalb weniger Stunden.
» Äh, tut mir leid « , sagte sie. » Ich glaube, das war mein Chef. Er wollte nur helfen. «
» Wem denn? « , knurrte Molina, als redete er halb mit sich selbst, halb mit Kate. » Es wäre sinnvoller gewesen, Sie hätten mir eine Frage gestellt, die ich Ihnen hätte beantworten können. Ich lege nicht unbedingt Wert darauf, auf diese Weise auf dem Radarschirm meines Vorgesetzten aufzutauchen. «
War seine Karriere das Einzige, was Molina interessierte? Das Gespräch erinnerte Kate an alles, was ihr an dem Detective missfallen hatte. Die aggressive Art, mit der er Kate in den ersten Tagen mit Fragen bombardiert hatte, so dass sie sich ständig in die Defensive getrieben fühlte und nur in Deckung gegangen war, anstatt sich auf die Antworten zu konzentrieren, die sie gern gehabt hätte. Sie hatte immer darauf gehofft, dass Molinas raue Schale irgendwann aufbrechen und sein gutes Herz zum Vorschein kommen würde, aber das war nie passiert.
» Es tut mir leid, dass man Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hat. « Erst als sie ihre eigene Stimme hörte, wurde ihr bewusst, wie wütend sie
Weitere Kostenlose Bücher