Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
öffnete, traute sie ihren Augen nicht. Es waren hunderte von SMS gespeichert, von allen möglichen Absendern– manchen waren Namen zugeordnet, manchen Handynummern, bei anderen stand unbekannt oder unterdrückte Nummer. Einige stammten von Kate. Mit einigen Absendern hatte Amelia zahllose SMS ausgetauscht, mit anderen nur eine einzige. Wie hatte Amelia bei den langen Schultagen, den zeitverschlingenden Hausaufgaben und ihrem Hockeytraining die Zeit gefunden, so viele SMS zu verschicken? Und vor allem– hätte Kate das nicht mitbekommen müssen?
Vielleicht hätte sie die SMS alle lesen sollen. Manche Mütter verfolgten den gesamten elektronischen Nachrichtenverkehr ihrer halbwüchsigen Kinder– SMS , E-Mails, Facebook-Seiten. Von Kolleginnen in der Kanzlei, die selber Mütter waren, wusste sie, dass manche ihre Sprösslinge über ihre regelmäßigen Kontrollen informierten, während andere heimlich nachschauten, wenn sich die Gelegenheit bot.
Kate hatte weder das eine noch das andere getan. Sie hatte es vorgezogen, Amelia zu vertrauen.
Zumindest hatte sie sich eingeredet, dass es das war. Denn als sie jetzt diese unzähligen SMS vor sich sah, überkam sie das ungute Gefühl, dass sie Amelias elektronische Korrespondenz nur deshalb nicht überwacht hatte, weil sie keine Zeit dafür gehabt hatte. Es war reine Nachlässigkeit gewesen und eine große Dummheit obendrein. Amelia war erst fünfzehn gewesen. Und auch wenn sie stets versucht hatte, Schwierigkeiten zu meiden, wäre es Kates Aufgabe gewesen, sich zu vergewissern, dass ihr das auch gelang.
Mit angehaltenem Atem ging sie die SMS durch. Bei den meisten handelte es sich um die für Teenager typischen Verabredungen in der Pause, zum Training oder zum gemeinsamen Hausaufgabenmachen. Dann stieß Kate auf eine SMS vom Tag vor Amelias Tod. Es war ein SMS -Austausch mit einem Jungen namens Ben.
AMELIA
wer bist du?
UNBEKANNTE NUMMER
ben, ich benutze das handy von meinem bruder
AMELIA
hallo, hätte beinahe nicht geantwortet
UNBEKANNTE NUMMER
hast du wegen Paris gefragt?
AMELIA
ja. keine chance
UNBEKANNTE NUMMER
vllt überlegt sie sichs noch anders
AMELIA
glaub nicht. irgendwelche ideen?
UNBEKANNTE NUMMER
nee… sie ist deine mutter
AMELIA
ich weiß… gehört ganz allein mir, ich glückspilz!!
Kate schloss die Augen, beugte sich vor und hielt sich den schmerzenden Bauch. Wütend auf die Eltern zu sein war das Recht jedes Teenagers. Das wusste Kate. Sie war immer noch wütend auf ihre Eltern. Aber aus gutem Grund. Sie waren unterkühlt und unnahbar und beschränkt. So waren sie immer gewesen. Kate hatte wirklich geglaubt, eine bessere Mutter zu sein, als Gretchen es je gewesen war, dabei hatte sie die Latte nicht mal sehr hoch gehängt. Sie hatte geglaubt, dass Amelia und sie etwas verband, ganz anders als bei ihr und Gretchen. Was, wenn die Beziehung zwischen Amelia und ihr gar nicht so gut gewesen war, wie sie angenommen hatte? Was, wenn sie Amelia doch nicht so gut gekannt hatte?
Kate drückte sich das Handy an die Brust und presste die Augen zu, als könnte ihr das helfen, nicht zu weinen. Es half nicht. Also ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie sank in sich zusammen und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Schließlich holte sie tief Luft und wischte sich mit der Hand die Tränen von den Wangen und den Rotz von der Nase. Vorsichtig legte sie Amelias Handy wieder auf den Tisch. Irgendwann würde sie sich all diese SMS gründlich vornehmen müssen. Sie würde das alles lesen müssen und konnte nur hoffen, dass sie nicht auf allzu viele Dinge stieß, die ihre Gefühle verletzten. Aber das hatte Zeit. Vorerst reichte es zu wissen, dass es Dinge gab, die sie unter die Lupe nehmen musste.
Kate trocknete sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch und begann, in Amelias Heften zu blättern. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über Amelias krakelige Handschrift, spürte die Rillen, die der Bleistift in dem Papier hinterlassen hatte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Amelia das alles geschrieben hatte. Als sie das Englischheft zuklappte, fielen ein paar zusammengeheftete Blätter heraus. Kate bückte sich, um sie aufzuheben.
Darstellungen der Zeit: Die Fahrt zum Leuchtturm. Von Amelia Baron. Das war der Aufsatz, bei dem Amelia angeblich ganze Passagen abgeschrieben hatte. Kates Herz machte einen Sprung. Das könnte ihre Chance sein, den Namen ihrer Tochter reinzuwaschen. Natürlich nicht sie selbst. Sie könnte den Aufsatz vorwärts und
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