Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
ich lesbisch bin. «
Sylvia schnaubte theatralisch. » Okay, du weißt, dass auch Homosexuelle Sex haben, oder? Lesbisch zu sein ist keine Ausrede für Abstinenz, weil– o Gott. « Sylvia verschwand fast unter dem Tisch. » Hat er seine Hand an ihrem Hintern? Ich kann nicht hinkucken. Kuck du. Los, mach schon. Dreh dich um und kuck. «
Ich bemühte mich, nicht sauer zu werden. Ian in der Öffentlichkeit mit einem anderen Mädchen– vor allem mit einer wie Susan Dolan–, das war echt krass. Aber nach der Bombe, die ich gerade hatte hochgehen lassen? Ich meine, ein paar Minuten Konzentration auf mich und mein Drama, das wäre wirklich nett gewesen. Andererseits tat Sylvia mir auch leid. Vor allen Leuten derart gedemütigt zu werden, war wirklich das Letzte.
Ich warf meinen Bleistift auf den Boden, um einen Vorwand zu haben, mich umzudrehen und in Ians Richtung zu kucken. Zuerst konnte ich ihn nicht erspähen, während ich versuchte, meinen Bleistift vom Boden aufzuheben. Aber dann richtete er sich plötzlich hinter einem Bücherregal auf, hinter dem er gehockt hatte. Eine Sekunde später tauchte Susan Dolan neben ihm auf. Ich blieb noch einen Moment in meiner gebückten Stellung und sah zu, wie sie einander anlächelten und sich spielerisch an den Schultern stupsten. Verdammt, das war übel. Richtig übel.
» Suchst du den hier? «
Neben meiner Hand befanden sich ein Paar modische Männerschuhe. Als ich mich aufrichtete, stand Mr Woodhouse vor mir und hielt meinen Bleistift hoch.
» Ja, danke « , sagte ich und nahm den Bleistift entgegen.
» Ja, vielen Dank « , sagte Sylvia und wedelte mit der Hand, um Mr Woodhouse zu verscheuchen. » Aber wir versuchen gerade, unsere Hausaufgaben zu machen. «
Sylvia konnte Woodhouse nicht leiden, weil er ihr immer mit Disziplinarstrafen drohte. Woodhouse war überhaupt ein scharfer Hund, was schulische Leistungen anging. Die meisten Mädchen konnten ihn entweder nicht ausstehen oder wollten mit ihm schlafen. Dazwischen gab’s nicht viel. Woodhouse schaute Sylvia durchdringend an, als würde es ihm schwerfallen, ihre Abneigung nicht zu erwidern. Irgendwie machte ihn mir das noch sympathischer.
» Kannst du nach der Schule mal in mein Büro kommen, Amelia? « , sagte er zu mir. » Ich möchte etwas mit dir besprechen. «
» Was denn? Wieso denn? « Ich klang viel zu nervös. In letzter Zeit hatte ich permanent ein schlechtes Gewissen. » Ich muss nämlich zum Hockeytraining. «
» Ich habe bereits mit Ms Bing gesprochen « , sagte Woodhouse. » Es dauert nicht lange. « Dann wandte er sich an Sylvia. » Freut mich zu sehen, dass du fleißig bist, Ms Golde. Deine Spanischlehrerin hat mich heute angerufen. Was auch immer dich in den vergangenen Wochen abgelenkt hat, es wird Zeit, dass du dich wieder auf die Schule konzentrierst. Du kannst dir nicht schon wieder eine Disziplinarstrafe leisten. «
Sylvia ignorierte ihn und kritzelte in ihrem Heft herum.
» Sicher, Herr Direktor « , sagte sie schließlich, ohne aufzublicken.
» Großartig, Ms Golde « , sagte er und klang ziemlich resigniert. » Einfach großartig. Bis später, Amelia. «
Als Woodhouse ging, wedelte Sylvia mit der Hand, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Dann sah sie sich überall in der Bibliothek um. Aber Ian und Susan Dolan waren schon wieder weg.
» Vielen Dank auch, Mr Scheiß-Woodhouse. «
Mitten im Bio-Unterricht bekam ich eine SMS von Dylan. in der freistunde bei dir?
Wir würden nicht viel Zeit haben, vielleicht zwanzig Minuten, den Hin- und Rückweg mitgerechnet, was die Sache ein bisschen riskant machte. Aber es machte sie auch aufregend.
Nach der Biostunde flitzte ich aus der Schule. Als ich um die Ecke zu unserer Straße bog, sah ich Dylan vor unserer Haustür sitzen. Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und das Gesicht abgewandt, wie um es vor dem Wind zu schützen. Es war wirklich ziemlich frisch draußen, trotz der Herbstsonne, die ihr Haar leuchten ließ, als stünde es in Flammen.
Ich war noch ein paar Häuser entfernt, als Dylan sich in meine Richtung umdrehte. Sie lächelte mich an. Als sie mich so anschaute, wusste ich, dass sie dasselbe für mich empfand wie ich für sie. Endlich war ich mir sicher. Und noch etwas war mir auf einmal ganz klar. Ich fand Dylan nicht nur toll. Ich war nicht nur in sie verknallt. Ich liebte sie. Ich liebte sie mit Haut und Haaren.
Irgendwie war die Erkenntnis eine Erleichterung. Denn jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit dem
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