Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Versteckspielen würde es von jetzt an vorbei sein. Und bei Dylan, die die ganze Zeit so komisch und ausweichend gewesen war, schien sich auch etwas geändert zu haben. Das sah ich an der Art, wie sie mich anschaute. Ich erwiderte ihr Lächeln und lief schneller.
» Komm rein « , sagte ich, nahm sie an der Hand und zog sie die Stufen hoch. Am liebsten hätte ich sie draußen auf der Straße geküsst. Aber zwei knutschende Mädchen mitten am Tag auf dem Gehweg würden nicht unbemerkt bleiben. Womöglich würde mich sogar jemand bei meiner Mom verpetzen. » Ich muss dir was erzählen. «
Kaum waren wir im Flur, die Tür war noch nicht richtig zu, da fing Dylan schon an, mich zu küssen und mir die Kleider vom Leib zu reißen. In der Erregung, als unsere Hände und Lippen einander suchten, war mir, als hätte ich alles, was mir wichtig war, schon gesagt. Dylan wusste, was ich empfand. Und ich wusste, was sie empfand.
Nachher lagen wir nackt, die Beine ineinander verschlungen, auf dem Wohnzimmersofa.
» Ich find es super, dass deine Mom nie daheim ist « , sagte Dylan und legte den Kopf auf meine Brust. Sie fuhr mit einem Finger über meinen Arm. » Es muss toll sein, immer sturmfreie Bude zu haben. «
» Manchmal « , sagte ich. » Aber ich bin auch gern mit meiner Mom zusammen. Ich fänd es schön, wenn sie öfter da wäre. «
Dann fiel mir ein, wie sauer ich am Wochenende davor gewesen war, als ich sie in aller Herrgottsfrühe geweckt und wegen meinem Vater zur Rede gestellt hatte. Ich hatte am Abend vorher schon wieder so eine SMS über meinen Dad gekriegt, und auf einmal hatte mich das alles total wütend gemacht, so wütend, dass es mir egal war, ob ich meine Mom verletzte. Ich hatte sogar ihre alten Tagebücher aus dem Keller geholt und mir vorgenommen, sie alle zu lesen und es selbst rauszufinden.
In einigen hatte ich ein bisschen rumgeblättert, aber weit war ich nicht gekommen. Ich hatte ein paar Seiten aus der Zeit kurz nach meiner Geburt gelesen und aus der Zeit, als sie gerade erfahren hatte, dass sie schwanger war. Es stand aber nichts darüber drin, wer mein Vater war. Im Grunde genommen tat mir meine Mom nur leid. Sie war damals so allein gewesen und so verängstigt. Ich nahm ihr die Gefühle nicht übel, die sie nach meiner Geburt gehabt hatte. Aber das bedeutete nicht, dass ich noch mehr lesen wollte. Es fühlte sich irgendwie unrecht an. Meine Mom schnüffelte schließlich auch nicht in meinen Privatsachen rum, jedenfalls nicht, soweit ich wusste.
Es konnte ja auch sein, dass meine Mom mich aus gutem Grund vor meinem Dad schützte. Sie liebte mich. Selbst auf die Gefahr hin, dass ich richtig stinkwütend auf sie war, würde es ihr immer nur um mein Wohl gehen. Meine Mom war alles, was ich hatte, und ich liebte sie. Ich wollte nichts rausfinden, was daran etwas ändern könnte. Ich konnte mein Leben lang mit einer Leere leben, die mein Vater hinterlassen hatte, solange meine Mom da war und sie füllte.
» Meine Mom ist immer da « , sagte Dylan. » Das geht mir auf die Nerven. «
Ich war Dylans Mom einmal begegnet, aber ich wusste kaum etwas über sie, außer dass sie Schauspielerin war, die einmal geglaubt hatte, sie wäre die neue Marilyn Monroe– sie war genauso schön wie Dylan–, sich dann aber mit ein paar Nebenrollen in irgendwelchen popeligen Krimiserien hatte begnügen müssen. Und sie setzte Dylan dauernd unter Druck, wollte, dass sie auch Schauspielerin wurde, obwohl Dylan überhaupt keinen Bock darauf hatte. Permanent lag sie ihr in den Ohren, wie sie sich das Haar frisieren sollte, und dass sie abnehmen sollte, obwohl sie jetzt schon spindeldürr war. Als wäre Dylan eine Anziehpuppe. Dylan schien das zwar nicht viel auszumachen, aber mir lief es manchmal kalt den Rücken runter, wenn sie von ihrer Mom erzählte. Dann war ich jedes Mal froh, dass meine Mom so war, wie sie war– auch wenn sie nicht so viel zu Hause war.
» Ich dachte, du und deine Mom, ihr würdet euch gut verstehen « , sagte ich.
» Tun wir ja auch. Wir sind die besten Freundinnen « , sagte Dylan wie auswendig gelernt. » Sie und Zadie und mein Dad sind die Einzigen, die mich wirklich kennen. « Ich bemühte mich, es nicht persönlich zu nehmen, dass ich nicht auf der Liste stand. So lange kannte ich Dylan ja noch nicht. » Jedenfalls bin ich froh, dass deine Mom nicht hier ist. So können wir wenigstens allein sein. «
» Ja, darüber bin ich auch froh « , sagte ich und bekam richtig Herzklopfen. »
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