Die letzte Zeugin
Fummel hier an.« Julie drückte ihr das Kleid in die Hand.
Von der Länge her war es eigentlich mehr eine Tunika, dachte Elizabeth. Es war knallrot, mit Rüschen an den Seiten. Auf den dünnen Trägern funkelten silberne Pailletten.
»Was zieht man dazu an?«
»Killerschuhe. Nein, lass den BH lieber weg. Zu dem Ding kannst du keinen BH tragen. Außerdem hast du eine echt gute Figur.«
»Ich habe gute Gene und halte mich durch tägliches Training und gesunde Ernährung fit.«
»Verstehe.«
Und der nackte – oder fast nackte – menschliche Körper war etwas ganz Natürliches, dachte Elizabeth. Nur Haut, Muskeln, Knochen und Nerven.
Sie legte ihren Büstenhalter auf die gefalteten Sachen und schlüpfte in das Kleid.
»Es ist sehr kurz«, begann sie.
»Wirf diese altmodischen Schlüpfer besser weg und kauf dir einen String. Das ist absolut clubwürdig.«
Elizabeth holte tief Luft und drehte sich zum Dreifachspiegel. »Oh.«
Wer war das? Wer war das Mädchen in dem kurzen roten Kleid?
»Ich sehe …«
»Du siehst großartig aus«, erklärte Julie, und Elizabeth sah im Spiegel, wie sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln ausbreitete.
»Großartig.«
Sie kaufte das Kleid und noch zwei weitere. Und Röcke. Sie kaufte Tops, die über der Taille endeten, und Hosen, die auf den Hüften saßen. Sie kaufte Tangas. Und sie surfte auf dem Tsunami und kaufte sich Schuhe mit silbernen Absätzen, auf denen zu laufen sie erst noch üben musste.
Und sie lachte wie jedes normale Mädchen, das mit einer Freundin in der Mall einkauft.
Sie kaufte eine Digitalkamera und sah dann zu, wie Julie sich auf der Toilette schminkte. Sie fotografierte Julie mehrere Male vor der hellgrauen Tür der Kabine.
»Und das funktioniert?«
»Ich sorge dafür, dass es funktioniert. Wie alt willst du sein? Am besten bleiben wir so dicht wie möglich an deinem wahren Alter. Dann kann ich alles von deiner gültigen Fahrerlaubnis übernehmen und brauche nur das Jahr zu ändern.«
»Hast du das schon mal gemacht?«
»Ich habe experimentiert und viel über Betrug und Cyber-Verbrechen gelesen. Es ist interessant. Ich würde gerne …«
»Was?«
»Ich würde mich gerne intensiver mit Computer-Verbrechen, Prävention und Ermittlung beschäftigen. Am liebsten würde ich zum FBI gehen.«
»Ehrlich? Wie Dana Scully.«
»Die kenne ich nicht …«
» Akte X , Liz. Guckst du kein Fernsehen?«
»Populäre und kommerzielle Fernsehsendungen darf ich nur eine Stunde pro Woche anschauen.«
Julie verdrehte ihre großen schokoladenbraunen Augen. »Wie alt bist du? Sechs? Jesus Christus!«
»Meine Mutter hat ganz klare Vorstellungen.«
»Du bist auf dem College, du liebe Güte! Du kannst dir angucken, was du willst. Na ja, ich komme auf jeden Fall morgen Abend bei dir vorbei. Gegen neun? Von dir aus nehmen wir ein Taxi. Aber ruf mich bitte an, wenn du den Ausweis fertig hast, okay?«
»Ja.«
»Ich sag dir was. Dass ich mit Darryl Schluss gemacht habe, war das Beste, was ich je getan habe, sonst hätte ich all das hier verpasst. Wir machen richtig Party, Liz.« Lachend schwenkte Julie mitten auf der Damentoilette die Hüften. »Richtig groß. Ich muss los. Neun Uhr. Versetz mich nicht.«
»Nein, das tue ich nicht.«
Erschöpft vom aufregenden Tag schleppte Elizabeth alle Tüten zu ihrem Auto. Sie wusste jetzt, worüber Mädchen in der Mall redeten.
Über Jungs. Darüber, es zu machen. Julie und Darryl hatten es gemacht. Über Kleider. Musik. Im Geiste hatte sie eine Liste von Sängern gespeichert, die sie nachgucken musste. Film- und Fernsehschauspieler. Andere Mädchen. Was andere Mädchen anhatten. Mit wem andere Mädchen es gemacht hatten. Immer wieder von Jungs.
Sie wusste, dass die Unterhaltungen und Gesprächsthemen Ausdruck gesellschaftlicher und generationsbedingter Normen waren. Aber bis zum heutigen Tag war sie ausgeschlossen gewesen.
Und sie glaubte, dass Julie sie mochte, wenigstens ein bisschen. Vielleicht könnten sie mehr miteinander unternehmen. Vielleicht auch mit Julies Freundin Tiffany – die es mit Mike Dauber gemacht hatte, als er in den Frühlingsferien zu Hause gewesen war.
Sie kannte Mike Dauber. Sie war in einem Kurs mit ihm. Und er hatte ihr einmal eine Nachricht zugesteckt. Sie war zwar für jemand anderen bestimmt, aber es war immerhin schon mal ein Kontakt gewesen.
Zu Hause legte sie alle Tüten auf ihr Bett.
Dieses Mal würde sie nichts verstecken. Und alles, was ihr nicht gefiel – also fast alles, was sie
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