Die letzte Zeugin
holte tief Luft, packte eine dicke Strähne ihrer schulterlangen Haare und schnitt sie ab.
Mit jedem Schnipsen der Schere fühlte sie sich mächtiger. Ihre Haare, ihre Entscheidung. Die abgeschnittenen Strähnen ließ sie zu Boden fallen. Und während sie die Haare schnitt und absäbelte, bildete sich ein Bild in ihrem Kopf. Sie wurde langsamer und betrachtete sich mit zusammengekniffenen Augen. Es war wirklich einfach nur Geometrie, dachte sie, und Physik. Aktion und Reaktion.
Die Last fiel von ihr ab, physisch wie metaphorisch. Das Mädchen im Spiegel sah leichter aus. Ihre Augen wirkten größer, ihr Gesicht war nicht mehr so schmal und verkniffen.
Sie sah … neu aus, fand Elizabeth.
Vorsichtig legte sie die Schere weg, und als sie merkte, dass ihr Atem in keuchenden Stößen kam, zwang sie sich, tief durchzuatmen.
So kurz. Prüfend hob sie eine Hand an ihren bloßen Hals, an ihre Ohren, dann strich sie über ihre Haare. Zu gleichmäßig, dachte sie. Sie ergriff eine Nagelschere und versuchte, etwas mehr Pfiff hineinzuschneiden.
Nicht schlecht. Nicht wirklich gut, gab sie zu, aber anders. Und darum ging es doch nur. Sie sah anders aus und fühlte sich anders.
Aber sie war noch nicht fertig.
Sie ließ die Haare einfach auf dem Boden liegen und ging in ihr Schlafzimmer. Dort zog sie die Sachen an, die sie versteckt hatte. Sie brauchte Zeug – so nannten die Mädchen es doch. Produkte für die Haare. Make-up. Und noch mehr Klamotten.
Sie musste in die Mall.
Aufgeregt lief sie ins Arbeitszimmer ihrer Mutter und nahm den Zweitschlüssel ihres Wagens aus der Schreibtischschublade. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie in die Garage eilte. Sie setzte sich hinters Steuer und schloss einen Moment lang die Augen.
»Jetzt geht es los!«, sagte sie leise. Dann betätigte sie die Fernbedienung für das Garagentor und fuhr rückwärts hinaus.
Sie ließ sich Löcher in die Ohrläppchen stechen. Es war ein wenig schmerzhaft, kam ihr jedoch kühn vor, und es passte zu der Haarfarbe, die sie nach langem, sorgfältigem Studium und Nachdenken ausgewählt hatte. Sie kaufte auch Haarwachs, da sie gesehen hatte, wie eins der Mädchen auf dem College es benutzte. Vielleicht konnte sie sich eine ähnliche Frisur machen.
Sie gab zweihundert Dollar für Make-up aus, weil sie sich nicht entscheiden konnte, welches das Richtige war.
Danach musste sie sich setzen, weil ihre Knie wackelten. Aber sie war noch nicht fertig, rief sich Elizabeth ins Gedächtnis, während sie beobachtete, wie Grüppchen von Teenagern, Frauen und Familien vorbeischlenderten. Sie musste nur einen Moment zur Besinnung kommen.
Sie brauchte Kleider, aber sie hatte keinen Plan, keine Einkaufsliste. Spontankäufe machten Spaß, waren aber auch anstrengend. Mittlerweile hatte sie dumpfe Kopfschmerzen, und ihre Ohrläppchen pochten.
Logisch und vernünftig wäre es, wenn sie nach Hause fahren und sich eine Weile hinlegen würde. Und dann konnte sie in Ruhe einen Plan aufstellen, was sie alles kaufen musste.
Aber das war die alte Elizabeth. Die neue holte nur kurz Luft.
Ein Problem war, dass sie nicht genau wusste, in welches Kaufhaus oder welchen Laden sie gehen sollte. Es gab so viele, und alle Schaufenster waren voll mit Sachen . Am besten wäre es wohl, ein bisschen herumzulaufen und Mädchen ihres Alters zu beobachten. Dann würde sie dorthin gehen, wo sie auch hingingen.
Sie packte ihre Tüten, stand auf – und prallte mit jemandem zusammen.
»Entschuldigung«, setzte sie an, aber dann erkannte sie das Mädchen. »Oh, Julie.«
»Ja.« Die Blonde mit den glatten, perfekten Haaren und den Augen wie geschmolzene Schokolade warf Elizabeth einen verwirrten Blick zu. »Kennen wir uns?«
»Wahrscheinlich erkennst du mich nicht. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ich habe als Schülerin Spanisch bei euch unterrichtet. Elizabeth Fitch.«
»Elizabeth, ja klar. Das Superhirn.« Julie kniff die Augen zusammen. »Du siehst so anders aus.«
»Oh, ich …« Verlegen hob Elizabeth eine Hand an die Haare. »Ich habe mir die Haare abgeschnitten.«
»Cool. Ich dachte, du wärst weggezogen oder so.«
»Ich bin aufs College gegangen und bin jetzt den Sommer über zu Hause.«
»Ach ja, du hast ja schon früh deinen Abschluss gemacht. Komisch.«
»Ja, wahrscheinlich. Gehst du diesen Herbst aufs College?«
»Ich soll nach Brown gehen.«
»Das ist eine wunderbare Schule.«
»Okay. Na ja …«
»Gehst du einkaufen?«
»Ich bin pleite.« Julie zuckte
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