Die letzte Zeugin
Luft und drehte sich um die eigene Achse. Wenn sie nicht ruhig und rational sein konnte wie ihre Mutter, würde sie eben wild sein. »Scheißdreck! Scheißdreck! Scheißdreck!«
»Durch die Wiederholung wird es kaum besser. Du hast den Rest des Wochenendes Zeit, dein Benehmen zu überdenken. Deine Mahlzeiten stehen im Kühlschrank oder liegen beschriftet im Tiefkühler. Deine Packliste liegt auf deinem Schreibtisch. Melde dich am Montagmorgen um acht Uhr bei Ms Vee an der Universität. Wenn du an diesem Sommerprogramm teilnimmst, ist dir der Platz an der HMS im nächsten Herbst sicher. Und jetzt trag bitte meinen Kleidersack hinunter. Das Auto muss jeden Moment da sein.«
Oh, diese Saat keimte, sie durchbrach den öden Boden und breitete sich schmerzhaft aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben blickte Elizabeth ihrer Mutter direkt in die Augen und sagte: »Nein.«
Sie wirbelte herum, marschierte hinaus und schlug die Tür ihres Zimmers hinter sich zu. Dann warf sie sich auf ihr Bett und starrte mit tränenverschleiertem Blick an die Decke. Und wartete.
Jetzt gleich, in einer Sekunde, sagte sie sich. Ihre Mutter würde hereinkommen, eine Entschuldigung von ihr verlangen, Gehorsam fordern. Aber diese Genugtuung würde Elizabeth ihr nicht geben.
Sie würden sich streiten, richtig streiten, sich Strafen und Konsequenzen androhen. Vielleicht würden sie einander sogar anschreien. Und wenn sie sich anschrien, würde ihre Mutter sie vielleicht endlich hören.
Und vielleicht konnte sie dann auch all die Dinge sagen, die sich in den letzten Jahren in ihr angestaut hatten. Dinge, von denen sie das Gefühl hatte, sie seien schon immer in ihr gewesen.
Sie wollte nicht Ärztin werden. Sie wollte nicht nach Plan leben oder eine blöde Jeans verstecken müssen, weil sie nicht den Kleidungsvorstellungen ihrer Mutter entsprach.
Sie wollte Freunde haben und keine gesellschaftlichen Verabredungen, die gebilligt wurden. Sie wollte die Musik hören, die gleichaltrige Mädchen hörten. Sie wollte wissen, worüber sie miteinander tuschelten, lachten und redeten, während sie ausgeschlossen war.
Sie wollte kein Genie und kein leuchtendes Vorbild sein.
Sie wollte normal sein. Sie wollte sein wie jede andere.
Sie wischte sich die Tränen ab, rollte sich zusammen und starrte auf die Tür.
Jeden Moment jetzt, dachte sie wieder. Jeden Moment. Ihre Mutter musste wütend sein. Sie musste hereinkommen und ihre Autorität zeigen. Das musste sie einfach.
»Bitte«, murmelte Elizabeth, als die Sekunden zu Minuten wurden, »bitte, lass mich nicht wieder als Erste nachgeben. Bitte, bitte, ich will nicht nachgeben.«
Liebe mich einfach. Nur dieses eine Mal.
Aber als die Minuten verstrichen, erhob sich Elizabeth schließlich. Geduld war eine der stärksten Waffen ihrer Mutter. Geduld und die Überzeugung, im Recht zu sein, zerschmetterten alle Gegner. Insbesondere ihre Tochter war dem nicht gewachsen.
Besiegt trat sie aus ihrem Zimmer zum Zimmer ihrer Mutter.
Der Kleidersack, die Aktenmappe, der kleine Rollkoffer waren weg. Schon als sie die Treppe hinunterging, wusste sie, dass auch ihre Mutter weg war.
»Sie hat mich alleingelassen. Sie hat mich einfach verlassen.«
Sie blickte sich in dem hübschen, aufgeräumten Wohnzimmer um. Alles war perfekt – die Stoffe, die Farben, die Kunstwerke, die Einrichtung. Die Antiquitäten befanden sich schon seit Generationen in der Familie der Fitchs und strahlten ruhige Eleganz aus.
Alles war leer.
Nichts hatte sich geändert, stellte sie fest. Und nichts würde sich je ändern.
»Dann werde ich mich eben ändern.«
Da gab es kein Nachdenken und kein Hinterfragen. Sie ging in ihr Zimmer und holte eine Schere aus dem Schreibtisch.
Im Badezimmer studierte sie ihr Gesicht im Spiegel. Die Farben hatte sie von ihrem Vater geerbt – kastanienbraune Haare, dick wie die ihrer Mutter, aber ohne die weichen, hübschen Wellen. Die hohen, scharfen Wangenknochen ihrer Mutter, die tiefliegenden grünen Augen, die blasse Haut und den großen Mund ihres biologischen Vaters – wer auch immer er sein mochte.
Physisch attraktiv, dachte sie. Das war genetisch bedingt, und ihre Mutter hätte auch nichts anderes geduldet. Aber nicht strahlend schön wie Susan, nein. Und das war wohl eine Enttäuschung gewesen, gegen die selbst ihre Mutter nichts ausrichten konnte.
»Freak.« Elizabeth presste eine Hand auf den Spiegel. Sie hasste ihr Spiegelbild. »Du bist ein Freak. Aber wenigstens bist du kein Feigling.«
Sie
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