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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Sie schien schnell zu frieren. Aber jetzt waschen. Was sonst? Also.
    Fangen wer mal janz einfach an, sagte sich Lotta. – Fangen wer einfach mal an mit dem Jesicht. Immer im Gesicht anfangen. Dann nach und nach und nach … eins nach dem anderen. Wir schaffen das schon.
    Wir müssen uns beeilen, sagte Frau Wissmar. – Ich muss doch arbeiten gehen. Ich habe noch so viel Arbeit, ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll.
    Oh – dann müssen wir uns aber dranhalten! Sonst wird der Chef sauer!
    Warmes Wasser, Seifenschaum, der weiße Frotteehandschuh, der sich mit Seifenwasser tränkte und das Gesicht der alten Dame reinigte und ihre Haut einen Moment lang beinahe rosig erscheinen ließ, die Stirn, die schmale Nase, die hohen Wangenknochen; sie schienen sich in den warmen Waschlappen hineinzuschmiegen, ihn zu suchen, zart und sachte wusch Lotta den Hals, die Ohren, die Hände, folgte den Gliedmaßen, erschrak vor den Stellen des von Adern und Unebenheiten gezeichneten Körpers, die sie so nie gesehen hatte und die jetzt noch barmherzig im Halbdunkel der Nachttischlampe lagen. Lotta schluckte und wusch. Bemühte sich. Trocknete ab, was abzutrocknen war. Und hüllte es bald wieder in die verblichene Wäsche mit ausgefransten Blümchen eines ehemals teuren Unterhemdes. Die schmalen, zueinander gedrehten Füße. Die Strümpfe, viel zu weit, rutschten Frau Wissmar fast von den Fesseln. Den Pullover über die gespreizten Finger ziehen. Und wie sollte sie Frau Wissmar in den Rollstuhl heben? Einfach reinsetzen? Sie hatte es ja schon bei den anderen gesehen, so machte sie es eben auch. Wog ja nichts, das alte Vögelchen.
    Alles klar, Frau Wissmar?
    Aber Frau Wissmar machte seltsame Geräusche. Sah auch irgenwie seltsam aus. Das Gesicht wirkte ganz und gar nicht elegant. Als nage sie noch an einem alten, alten Kummer. Das Leben ist schwer. Aber hier schien sich das ganze Gesicht zu deformieren. Fasziniert und beängstigt starrte Lotta Frau Wissmar ins Gesicht. Was hatten diese Augen alles gesehen, schwarze, glitzernde Augen mit stumpfen kurzen Wimpern wie einem erloschenen Strahlenkranz.
    Frau Wissmar kämpfte, sie kämpfte mit dem Mund, schob etwas mit dem Kiefer nach vorne. Lotta tastete vorsichtig ihre Lippe ab, da stand doch irgendetwas über, Frau Wissmar schien etwas Unverdauliches zu kauen.
    Verzeihung. Lotta öffnete ihr den Mund.
    Die Zähne sahen komisch aus. Es lag an den Schneidezähnen, sie waren so schmal! Und hinter der Unterlippe die Zähne so breit, da stimmte doch was nicht.
    Dann begriff Lotta. Mit minutenlanger Verspätung. Sie hatte Frau Wissmar das Gebiss verkehrt herum in den Mund gestopft.

Fredderik hatte einen anderen geküsst  . War es so, oder war es nicht so? Ivy hatte es gesehen. Noch im Eingang zum Sir Francis, unten im Vorraum vor den dicken Filzvorhängen, im Augenblick, als sich die Filzgardine geöffnet hatte, hatte er Fredderik im flackernden blauen Licht beim Klang einer weiblichen Soulstimme einem anderen die Hand auf den Hintern legen sehen und gleich darauf die verderbten Lippen in andere Lippen, nein, in einem geradezu breiten Maul versenken. Der Rest war Nebelschwaden. Musikbruchstücke. Lärmfetzen. Ivy wusste es nicht mehr genau, ein Wort gab das andere, ein Schrei, ein Stoß, die Kasse, die auf einmal durch die Luft flog, wieso denn die Kasse, der Türsteher hatte sie nicht mehr alle, wollte nur seinen Bizeps anbringen, der kartoffelnasige Schweinehund, der sich ihm entgegengeworfen hatte, einfach so, einfach so! Um Fredderik zu schützen? Um seiner Tändelei Geleit zu geben? Stand er etwa mit ihm im Bunde?
    Ivy begriff nichts. Aber auch gar nichts. Er hatte erst begriffen, als er von der Wucht des Schlages zu Boden gegangen war, das Blut in seinen Mund lief, die Nase so höllisch schmerzte, dass es ihm nahezu den Schädel sprengte. Boxer. Boxer hatten so was jeden Tag. Ivy kam kaum zu sich. Geschunden, geschlagen, betrogen, verletzt. Das hatte er nun davon.
    Er saß in der Ambulanz, frisch verpflastert, das Nasenbein irgendwie gerichtet, so schmerzhaft, so schmerzhaft. Er war nicht mit Liebe verbunden worden, nicht mal das.
    Diese Schläger, das kann ich leiden!, hatte der Arzt gesagt. – Diese … Und dann nicht weitergesprochen. Vielleicht hatte er sagen wollen: Schlagt euch doch gleich tot! Ihr primitives Volk. Ivy war nicht primitiv. Er schlug sich nicht. Nie. Es war nur wegen … Die Schmerzen steigerten sich unendlich, wenn er an den Namen Fredderik dachte. Er durfte

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