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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Stadt in der Ambulanz!
    In der Ambulanz?? Hatte er einen Unfall oder was?
    Kann man so sagen! Der Hitzkopf! Der alberne Kerl!
    Hat er was angestellt? Hat er sich gestritten? Hatte er Zoff?
    Und ob. Warum, weiß ich auch nicht.
    Aber was hat er denn? Was denn?
    Ach. Rosalinde kramte in der Kittelschürze nach ihrem Taschentuch und schnäuzte sich.
    Wenn du es genau wissen willst: Der Türsteher hat ihm die Nase gebrochen.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen  , dass Lotta behauptet hatte, sie könnte pflegen und für Ivy einspringen. Das war gelogen. Jetzt stand sie im dunklen Flur bei Frau Wissmar und traute sich kaum weiter und schielte in das schwach beleuchtete Zimmer hinein. Im Bett bewegte sich nichts. Lotta knetete die Gummihandschuhe, die Rosalinde ihr gegeben hatte, und starrte auf das Wesen unter der dünnen Streifendecke. Frau Wissmar rührte sich nicht. Lotta rührte sich nicht.
    Wie durch ein Wunder. Wie durch ein Wunder machte Frau Wissmar die Augen auf. Lotta hatte geglaubt, sie sei tot. Zitternd umklammerte sie den Bettpfosten. Durch die geschlossenen Vorhänge kam nur wenig Licht, aber Licht genug, um zu sehen, wie das Leben den Körper von Frau Wissmar erfasste, den zunderdürren Körper, den von Flecken besprenkelten Leib, die zehntausendfach gefältelte Haut. Lotta staunte. Frau Wissmar, die Personalchefin der Degussa. Ihr Körper belebte sich tatsächlich, und jetzt sah Lotta deutlich, dass die Seele des Menschen durch die Augen in den Körper fuhr, die Augen die Fenster zur Seele, denn die Augen waren das Erste, das sich bewegte, ein Blinzeln, ein leichtes Blinzeln. Der Kopf bewegte sich leicht nach links, die langen Finger spreizten sich, die Augen öffneten sich endgültig, alles wie bei einer geheimnisvollen, alten, wertvollen Marionette. Der dürre Leib, die länglichen Beine, die Gebeine unter verblichenen Blümchen im Nachthemd erstarrt, rührten sich leicht. Lotta staunte. Noch einen Moment. Und ein überaus elegantes Wesen zog in diesen zur Gänze ausgelebten Körper hinein, belebte ihn und verwandelte ihn in ein kostbares Geschöpf voller Grazie und überragender Würde.
    Guten Morgen, sagte Frau Wissmar.
    Ich kann helfen, hatte Lotta geschworen. Ich kenne mich aus! Ich habe meine Oma gepflegt und meine Tante! Ich habe schon alte Leute gewaschen und gekämmt, ich kann das machen! Die Rollstühle kann ich ja morgen reinigen und das Stationszimmer ein andermal aufräumen, ich kann die Wäsche nach dem Mittagessen einsortieren, das ist doch wurscht, ob die Wäsche einen Tag früher oder später …
    Rosalinde war ihr so dankbar gewesen. – Ich darf das nicht, aber ich weiß nicht, was sonst werden soll, ich wäre unheimlich froh, wenn du drei, vier Leute aus dem Bett holst, wirklich, wir helfen auch alle beim Frühstück.
    Lotta hatte eigentlich nur ihrer Großmutter die Hand gehalten und auch mal die Haare gekämmt. Ansonsten hatte sie der Gemeindeschwester zugesehen. Aber sie war auch öfter mal Babysitter gewesen und sie konnte Windeln wechseln.
    Mein Gott, was sollte bei einem alten Menschen anders sein als bei einem jungen? Waschen, anziehen, fertig. Lotta suchte im Bad herum, da stand eine Waschschüssel. Waschlappen für oben, Waschlappen für unten, war doch alles ganz einfach. Aber Lotta hatte noch nie eine alte Frau nackt gesehen, geschweige denn angefasst. Sie atmete tief ein, dann wieder aus. Sie hatte den Mund zu voll genommen, erst gequatscht und dann nachgedacht, nun stand sie hier und konnte nicht zurück, ihr wurde ganz schlecht. Gummihandschuhe. Doch als Lotta die Gummihandschuhe anzog, fühlte sie sich kompetent. Wie eine Medizinerin. Sie mochte die Gummihandschuhe, sie waren weich und bestäubt und rochen ein wenig nach Operation und nach Kondom. Egal, weiter jetzt. Am besten gar nicht überlegen.
    Darf ich Ihnen mal das Nachthemd ausziehen?
    Aber natürlich, da wäre ich Ihnen sehr dankbar, ich muss ja aufstehen!
    Oh je. Frau Wissmar hatte unendlich viele spitze Winkel. Spitze Ellenbogen, gespreizte Hände, steife Hüften, das ging alles nicht so einfach. Lotta sah Kinn und Nase im Stoff verschwinden und das Hemd blieb an den Ohren hängen, sie fing an zu schwitzen. Sie erinnerte sich an ihre Puppen, die Puppen ihrer Kindheit. Auch die waren schwer anzuziehen gewesen, die Häkelkleider verhakten sich an den Fingerchen, die Körper waren ganz steif. Sie musste sich erinnern, musste! Und siehe da, nach einer Weile hatte sie Frau Wissmar erfolgreich das Hemd ausgezogen.

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