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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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es nicht denken. Ein katapultartig im Hinterkopf losgeschossener Schmerz, ein Orkan, eine Gewalteinwirkung von außen, die seinen inneren Zustand nur umschrieb, die gebrochene Nase war nur ein lächerlicher Ausdruck. Dazu der schäbige, verständnislose Arzt, die dumme Schwester, die einfältig nickte zu allem, was der Doktor sagte. Der Verband war ganz schief geklebt. Und es schien, als hätten sie mit voller Absicht das Medikament vergessen.
    Rosalinde, dachte er. Er hatte plötzlich Heimweh nach Schwester Rosalinde wie nach einer Mutter. Rosalinde machte das alles viel schöner. Saubere, schöne Verbände, mit Liebe geklebt, dazu Tramal. Rosalinde war die Herrin über die Flasche Tramal. Er brauchte etwas gegen die Schmerzen, sonst ging er zugrunde.
    Und in Zukunft …, sagte der Arzt. Jaja …
    Stöhnend nahm Ivy den Arztbrief entgegen und wankte nach draußen in die frische, nebelige Septemberluft. Sein Hemd war nicht sauber, egal, im Heim hatten sie für alles Verständnis, für alles. Die Straßenbahn, wo blieb die Straßenbahn, ihm war so schlecht, Ivy stützte sich auf den Kassenautomaten.

Nie wieder   wollte Lotta zu Herrn Kurtacker ins Zimmer gehen. Er würde ihr nur wieder einen Fisch an den Kopf schmeißen.
    Naain, hatte Gianna gesagt. So schlimm iste nicht. Gib du keine Widerwort. Einfach nur Frühstück hinstelle, sage gute Appetit, lasse ihm die Dinge liege, lasse Bett schmutzig, sage nicht: misse besser anziehe, sage nicht: macke die Klodeckel runter oder so … stelle nur Esse hin und weg! Dann ist ganz liebe Kerl. Jetzt ich muss gehe in Betriebsrat, wir habe Sitzung, wir wolle mehr Gelde verdiene. Gehst du Kurtacker. Und schließe zu danach.
    Lotta atmete ein und aus. So viel Platz hatte sie in ihrer Kittelschürze gar nicht, wie sie jetzt zum Ein- und Ausatmen brauchte. Es war Not am Mann. An jedem Mann auf der Station und an der Frau auch. Sie bekreuzigte sich, drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Sie sah nichts. Kurtacker war nicht da. Nein, er lag im Bett.
    Lotta beeilte sich.
    Morgen, sagte Lotta und drehte sich kaum zu ihm hin. Stellte das Frühstück ab und wollte sofort wieder gehen. Aber irgendetwas hinderte sie, zwang sie dazu, sich noch mal umzudrehen, da lag Herr Kurtacker in seinen zerwühlten Kissen, das Haar wirr, schwarz und unrasiert, er versuchte verzweifelt, sich aufzusetzen. Es war, als müsste sie ihm helfen. Helfen – und dann den Arm ausgekugelt kriegen.
    Der Kurtacker. Er ist kein Tier, er ist kein Mensch, hatte Gianna gesagt. Lotta fürchtete sich. Aber konnte man zusehen, wie er seinen halbseitig gelähmten Leib mit solcher Mühe hochschaffte?
    Lotta war immer gut beim Völkerball gewesen. Falls er etwas werfen sollte, wäre sie sehr schnell aus der Tür. Sie war immer als Letzte abgeschossen worden. Also.
    Herr Kurtacker, gab sie sich Mühe. Soll ich Ihnen helfen, in den Rollstuhl zu kommen?
    Die Schuhe, murmelte Kurtacker undeutlich und zeigte mit der gesunden Hand auf zwei gammelige Turnschuhe mit Klettverschluss. Lotta atmete noch mal tief ein und brachte ihm die Schuhe, öffnete die Lasche und schob sie ihm über die nackten Füße.
    Danke, danke schön … Kurtacker wollte nicht aufhören, sich zu bedanken. Er streckte die Hand aus und Lotta wollte eben am Herzinfarkt sterben, als er plötzlich sachte, ganz sachte über ihre Haare fuhr.
    Du bist ein schönes Mädchen, so ein schönes Mädchen …
    Leicht geschockt stand Lotta wieder auf.
    Das war doch nichts. Hab den Kaffee auch schön schwarz gelassen, so wie Sie das gern haben.
    Danke, danke schön. Herr Kurtacker wuchtete sich mit einer Hand in den Rollstuhl hinein und fuhr an den Tisch. Hob die Hand und hielt sich die gelähmte Gesichtshälfte zu. – Danke. Danke, sagte er noch mal, danke, das ist wunderbar.
    Geht es Ihnen gut? fragte Lotta vorsichtig und allen Ratschlägen zum Trotz.
    Ach, Kurtacker winkte ab. – Am liebsten wäre ich tot. Das Leben ist … das Leben ist … ist doch alles Scheiße. Wenn ich nur tot wäre.
    Tja, sagte Lotta betreten. – Ich weiß ja auch nicht, was man da machen kann. Ich kann Sie ja nicht mit dem Gewehr totschießen.
    Kurtacker drehte sich mit dem ganzen Rollstuhl um und sah sie verblüfft an. Und im nächsten Augenblick geriet er ins Wanken und Beben und er lachte, lachte und lachte. Gottseidank. Lachen war besser als sterben. Vielleicht. Nur vielleicht. Lotta machte unwillkürlich einen Knicks.
    Kann ich Ihnen noch irgendwas … irgendeinen Wunsch

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