Die letzten Dinge - Roman
hinunter ins Tal und hinter der großen Stadt stiegen im Osten wieder Hügel auf mit Wäldern und bräunlich schillernden Wiesen. Es war so erhebend, über die Stadt zu schauen, die Luft war so frisch und fegte zwischen den Schornsteinen hindurch, nur ein Gitterzaun hinderte einen Menschen daran, sich hier hinunterzustürzen. Das Stückchen Teerpappe war freigegeben für das Personal, ein Fleckchen, um in den Himmel zu sehen und Luft zu tanken, Luft, Luft – und gleich dahinter und links und rechts erhob sich die mit schwarzem Schiefer beschlagenen Dächer, rund und in Hügeln und in Kurven wie schwarze Dünen oder Schindelhaufen.
Der Blick so weit. So weit. Sie mühte sich, nicht nach rechts zu sehen, wo die Kleiderkammer war und dahinter das Zimmer von Lotta und der restliche Speicher. Wie konnte Lotta nur da wohnen. Wie konnte sie nur! Hatte sie nichts gesehen, nichts bemerkt? Wie konnte man nur so ein Holzklotz sein und neben einem Gespenst wohnen und nichts davon bemerken? Immer kam Lotta fröhlich die Treppe herunter und sang. Wenn man einem Gespenst begegnete, dann sang man nicht. Das ging einfach nicht. Man lief schreiend davon. Unentwegt beschäftigte Gianna sich mit der verlorenen Seele. Man musste sie doch einfangen. Man durfte sie nicht einfach sich selbst überlassen, denn sie hatte den Weg zu Gott nicht gefunden.
Manchmal war Gianna überzeugt, dass das Gespenst es nur auf sie abgesehen hatte, es rannte ihr förmlich hinterher. Manchmal spürte sie es sogar auf Station.
Gianna wurde kalt, wenn sie daran dachte, eiskalt. Es schwebte einfach an ihr vorbei. Sie zog die hochgestülpten Pulloverärmel wieder runter. Dabei war ihr sonst nie kalt. Auf Station war es immer warm, die alten Mädels froren leicht unter allzu dünnen Häuten. Aber Gianna war immer nass geschwitzt. Niemand duschte so viele Bewohner wie sie. Niemand hatte ewig den Duschkopf in der Hand, wusch, schrubbte und rubbelte die nassen Haare trocken und trug Berge von nassen Handtüchern davon. Wenn sie es nicht tat, wer sonst? Rosalinde sollte schreiben, schreiben, denn das konnte Gianna nicht, sie machte zu viele Fehler. Rosalinde hatte nie genug Zeit, all das aufzuschreiben, was man aufschreiben musste. Wieso musste man so viel schreiben, das war doch Blödsinn. Lieber duschte sie die Leute, jemand musste es machen und sie, Gianna, war flott. Sie konnte arbeiten wie ein Pferd. Aber die Gesundheit ließ nach. Sie war keine zwanzig mehr, sie hatte es im Rücken, dann tat ihr der Bauch weh, dann das Genick, die Füße … egal. Gianna zertrampelte die Zigarette.
Musse weitergehe!
Als sie die Tür zum Treppenhaus aufriss und wieder hinunterwollte, begegnete ihr das Sotzbacher Mädchen, das emsig einen Schritt vor den anderen auf die Stufen setzte und wie ein Entlein die Treppe hinaufwackelte. Mal schnaufte sie, mal musste sie sich ordentlich am Geländer hochziehen, aber sie schaffte es und steuerte zielsicher auf die Kleiderkammer zu.
Nix! Nix dahingehe, Sotzbacher Mädche!, rief Gianna. – Bleibe stehe!
Aber das Sotzbacher Mädchen hörte nicht, es hatte schon mit einem strahlenden Lächeln die Tür zur Kleiderkammer aufgedrückt und ging schnurstracks hinein.
Oh mio dio. Was mackst du in de Kammer! Oh, liebe Gott.
Gianna wollte auf keinen Fall hinterher. Sollte sie das Sotzbacher Mädchen dort allein lassen? Vielleicht fand sie nicht mehr zurück. Gianna konnte sich einfach doof stellen. Es war aber auch wie verhext, dass man zum Rauchen an der Kleiderkammer vorbei musste, wenn man aufs Dach wollte.
Sotzbacher Mädche, – Frau Siefert, Magda – komme Sie raus! Magda! Sie solle höre, wenn ich was sagge!
Die Tür blieb zu und Gianna hörte das Sotzbacher Mädchen artig lachen und etwas antworten.
Wem hatte sie geantwortet? Ihr, Gianna, oder wem? Es blieb eine Weile still in der Kleiderkammer. Dann lachte Magda wieder und sagte: Ja ja, des älteste Sotzbacher Mädchen! Ja! Und ich bin hier geboren, hier in dem Haus.
Ja! Ich hab bei der Frankfurter Rundschau gearbeitet. Gucke mal, ich bin 87 Jahr! Und ich hab fünf Kinderchen geboren. Sollt mer net meine, oder?
Das Sotzbacher Mädchen kicherte.
Ja, ja! Da hawwe Sie Recht! Soll ich des mal anziehen? Ja? Gut, wenn Sie meine …
Das Sotzbacher Mädchen sprach mit irgendjemandem. Aber da war doch niemand, oder? Gianna wurde es unheimlich, sie bekam Gänsehaut.
- Oh dio mio. Sant’ Agata, Santa Lucia, Sant’ Agneta, Santa Cecilia … Sie bekreuzigte sich und wurde weiß wie
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