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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Verstand. Ihr Mann hatte nichts zu lachen, der weichherzige Fleischermeister. Er war ihr unterlegen. Sie hatte ihn sich sofort beiseite genommen, kaum dass sie in dem Laden angefangen hatte.
    So hatte Uljana Schiwrin, geb. Levmanikow es damals auch gemacht. Sie hatte Schiwrin genommen und ihn auf der Stelle vor den Traualtar geschleift. Was man hat, das hat man, und Schiwrin war ein bedeutender Ingenieur. Wie einer aussah, war damals egal. Bloß hier im Westen musste man dauernd Zähne reparieren lassen und zum Friseur gehen und gut aussehen. Aber damals … Schiwrin wurde geholt, um den Tunnel zum Baikalsee zu bauen. Für die Baikal-Amur-Magistrale-Eisenbahnlinie. Das war großartig. Das war erhebend. Sie hatte ihren besten Pelz getragen, als die Eisenbahn zum erstenmal durch den Tunnel zum Baikalsee fuhr, sie hatte auf dem vordersten Sitz gesessen, vor dem Aussichtsfenster mit dem Blick auf das Stanowoj-Gebirge, da hatte sie gesessen, ganz vorne wie eine Zarin auf dem Balkon. Und Schiwrin, ihr einfältiger Schiwrin, er hatte gelacht nach allen Seiten, als draußen die kleinen Mädels mit den riesigen Schleifen ihre Lieder in das Dröhnen der Lokomotive sangen, es war ein großartiger Tag gewesen. Ein großartiger Tag.
    Und mit dem Land hatten sie die Sprache verloren. Die ganze Sprache. Sie verließen die Heimat, sie fühlten sich fremd, sie suchten sich eine Wohnung und ehe sie sich versah, hatte Schiwrin sich in die Erde vergraben und sie mit den Töchtern alleine gelassen. Das hatte sie ihm niemals verziehen, niemals.
    Und jetzt verkroch er sich irgendwo in einer Sofaecke und wurde mit Brei gefüttert. Das hatte sie nicht gewollt. Das nicht. Geweint hatte er, als Valerija ihm das Bild von ihrem Enkel gezeigt hatte. Geweint. Das hätte sie nicht für möglich gehalten. Ihr Mann, hilfsbedürftig wie ein Kind, allein, nur von einer russischen Schwester umsorgt. Aber wenigstens russisch. Obwohl die Russen mit den Juden ja auch nicht besonders gut umgegangen waren, sonst hätten sie das Land nie verlassen. Und war es nun richtig, dass eine andere Russin ihn versorgte, anstatt dass sie, seine angetraute Ehefrau … Woher hatte sie wissen sollen? Sie konnten nicht reden, einfach nicht reden. Alles war schwer. Reden. Karten schreiben. Nur schimpfen, das ging leicht.
    So wie damals auf dem ersten Sitz im Zug der Baikal-Amur-Magistrale – so hätte ihr Leben verlaufen müssen. So wäre es recht gewesen. Im Vorgarten rankten sich zwei welke Bohnensprösslinge mit tausenderlei Kringeln an einer Stange empor. Wer pflanzte schon noch Bohnen. Uljana Schiwrin. Wie lieblich das Bohnengewächs umeinander rankte. So eine Liebe hatte sie niemals gehabt, niemals. So wie hier das Bohnenkraut umeinander spielte.
    Mit Vater geht es zuende, hatte Valerija gesagt.
    Uljana musste sich auf die Lippen beißen. Die Lippen büßten für Uljanas ganzes, bisheriges Leben. Eine andere Russin sorgte für ihren Mann. Ein böser Mann. Ein Mann, der sich nicht geschert hatte. Aber es war ihr Mann. Es durfte nicht sein, dass ihr am Ende eine andere den kümmerlichen Rest von dem wegnahm, was ihr einmal gehört hatte. Etwas rührte sich in Uljana. Etwas Geröll von einer versteinerten Felsenwand. Polterte unbeachtet auf den Seelengrund. Es gab keinen Gott. Aber wenn es einen gab, wollte er ihr vielleicht noch mal die Gelegenheit geben … ihm ein letztes Mal zu sagen … wie weh er ihr getan hatte! Und wie schuld, wie schuld, wie schuldig er war, an ihrem schrecklichen, freudlosen, trostlosen Leben.

In ewiger Stille   ruhten im Keller diejenigen, die nicht mehr aufstehen sollten. Sie lagen mit einem Asparaguszweig bekränzt im Schein einer Kerze, die stetig vor sich hintropfte, und der Duft welker Lilien mischte sich mit dem seltsamen Duft des Todes. Dieser Ort vollkommener Ruhe wurde nur dann und wann gestört, wenn das Wasser durch die Heizungsrohre tröpfelte, nicht zu viel, denn die letzte Stätte eines Menschen war eine kühle Stätte.
    Nur eine Wand trennte sie von ihrem Hab und Gut, Sofa, Schrank und Seidenkissen; nur eine Wand weiter lag alles, was sie besessen hatten am letzten Tag ihres Lebens. Niemand ging freiwillig hierher, es sei denn, er holte die Möbel ab oder sagte seinem Vater, seinem Onkel einen letzten Gruß, oder der Pfarrer kam und sprach die seligen Worte, um der dahingeschiedenen Seele eine Barmherzigkeit auf den Weg zu geben. Wenn die Seele sie noch hörte.
    Im Keller ruhte alles. Nur Ivy nicht. Ivy hinter der zweiten,

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