Die letzten Dinge - Roman
die Schornsteinwand.
Sie konnte auf keinen Fall da hineingehen. Das hielten ihre Nerven nicht aus.
Wohnte nicht Lotta nebenan? Hatte sie nicht schon Feierabend und war vielleicht in ihrem Zimmer? Wild entschlossen lief Gianna auf den Flur und klopfte an der Tür hinter dem großen Kamin.
Lotta! Lotta bist du da drinne!
Giannas Stimme war so dunkel wie verbackenes Toastbrot.
Ja, was ist denn los, wer ist denn da?
Lotta, kommst du mir helfe!
Lotta öffnete die Tür und hatte eine Kopfkissenfalte im schlafroten Gesicht.
Aber was ist denn los?
Sotzbacher Mädche at sich verlaufe in de Kleiderkammer, gehst du sie hole?
Hä, aber … hol sie doch einfach!
Nein, ich gehe nichte Kleiderkammer!
Aber Gianna …
Lotta streifte sich ein Sweatshirt über und folgte ihr barfuß.
Wieso, was ist denn mit der Kleiderkammer?
Darfe alleine nicht hineingehe, sonst Verdacht auf Diebstahl.
Och, wer will denn die alten Flohmarktklamotten?
Iste manchmal schöne Strickjacke da oder so. Oder Nähmaschine oder Schere.
Lotta rannte zur Kleiderkammertür und riss sie weit auf. Gianna blieb hinterm Schornstein stehen.
Oh – das Sotzbacher Mädchen? Was machen Sie denn hier?
Lotta musste so sehr lachen, dass sie sich verschluckte. Das Sotzbacher Mädchen hatte alle möglichen Kleider und Blusen aus dem Schrank gezogen und sich umgehängt.
Aber Frau Siefert! Großartig!
Gell, ich bin ein schönes Mädchen … was ich noch für an scheene Körper hab, mit 87 Jahren.
Gianna? Gianna, guck doch mal. Sehr schön, Frau Siefert, wirklich wunderbar! Gianna?
Aber Gianna war verschwunden. Oh ja, der Stress. Unten wartete die Station, natürlich, Gianna hatte keine Zeit. Lotta gluckste vor Lachen und versuchte, dem Sotzbacher Mädchen die Sachen wieder auszuziehen.
Ihre eigenen Blusen sind doch viel viel schöner! Wollen wir mal gucken? Mal runtergehen? Ich meine, ich kann ja mal fragen, ob Sie eine Bluse behalten können. Oder so ein Kleid. Ist ja genug da. Aber es gibt jetzt gleich Abendessen.
Oh, Abendessen, sagte das Sotzbacher Mädchen. -Das darf ich nicht versäumen. – Oh, die Dame hat mich so schön beraten!
Was für eine Dame?
Na, die Dame hier! Das Sotzbacher Mädchen lächelte bezaubert und ohne einen einzigen Zahn im Mund.
Lotta starrte auf die Schneiderpuppe. – Oh ja, sie ist reizend. Und was für eine Figur!
Kommen Sie, es gibt heute Wurstsalat.
Oh, Wurstsalat! Das ess ich aber gerne. Oh ja! Krieg ich aach en Kakao? Ouh, das ist aber fein!
Und sie brachte das Sotzbacher Mädchen wohlbehalten wieder auf die Station zurück, etwas zu früh für das Abendessen, aber lustig und guter Dinge. – Eines Tages, sagte sich Lotta, eines Tages steht eine bei mir im Zimmer und legt sich in mein Bett oder in die Badewanne.
Uljana Schiwrin , geborene Levmanikow, stand am Fenster und starrte hinaus auf die weißen Vorort-Häuser von Bad Hersfeld. Stumm und starr wiederholte sie die Klagelieder ihres ganzen bisherigen Lebens, ein eisiger Rosenkranz mit verkrusteten Perlen. Tausendfach aufgesagt, bis noch das letzte Wort darin erfroren war. Der Mann, der ihr das Leben verdorben hatte. Der Mann, der sie hierher geschleppt hatte. Der Mann, der kein Wort mit ihr gesprochen hatte, und dabei hätte er sich doch Mühe geben müssen, verstand sie schon kein deutsches Wort, so erhielt sie nicht mal mehr ein russisches. Die Kinder waren fort. Längst fort.
Anton Novikow lebte um die Ecke und seine Mutter und seine Schwestern. Die traf sie jetzt andauernd und konnte inzwischen auch deutsch. Sie hatte es noch gelernt, auf ihre alten Tage mit dem bitteren Mund. Ihr Mund hatte im Laufe der Jahre eine Sichel gebildet, die Spitzen nach unten, blutleer gebissen in der weichen, alten, aber faltenlosen Haut. Die Haare trug sie immer noch schwarz, so schwarz wie heute die Schneewittchentochter. Sie hatten eine schöne Tochter mit schwarzem Haar und eine böse Tochter mit rotem Haar. Die böse Tochter hatte sie gefärbt zu einem kräftigen Rostbraun, ansonsten nahm sie keine Schminke und trug keine Ringe, aber – sie war Filialleiterin in einer Supermarktkette und darauf war sie stolz. Die rote Tochter hatte alles im Griff und kein verfaultes Fleisch, kein abgelaufener Käse fand sich in ihren Regalen, am ersten September begann sie mit der Weihnachtsdekoration. Am ersten Januar mit der Osterdekoration, ja unter Darijah lief alles wie am Schnürchen, dafür sorgte sie mit ihren mageren Ellenbogen und ihrem blitzblank gewienerten und geölten
Weitere Kostenlose Bücher