Die letzten Dinge - Roman
dritten Wand störte irgendwann die Stille, als er den Kopf hob, sich umdrehte und zwischen den weichen Pamperspaketen auf den Boden rutschte.
Au Scheiße noch mal. Er fluchte und hielt sich den Kopf, dann die Rippen, das Tramal hatte ihn benommen gemacht, aber den Schmerz hatte es nicht überall genommen, seine Rippen waren irgendwie verzogen, an einer Seite gedehnt und auf der anderen gestaucht und leicht gefroren, seine Nase mit den getrockneten Blutresten tat weh, außerdem hatte er höllischen Durst. Er versuchte, auf die Uhr zu schauen. Halb fünf. Er hätte vielleicht nicht den ganzen Pappbecher Tramal trinken sollen. Noch war ihm schwindelig und das war gut, denn wenn ihm nicht so schwindelig gewesen wäre, hätte er sich wieder erinnert, und erinnern wollte er sich nicht. Er hielt sich das aufdrängende Knäuel verworrener, unglückseliger Begegnungen vom Hals, hielt es irgendwo unter der Magendecke unter Verschluss, wollte es nicht fühlen, wollte nichts damit zu tun haben. Ivy sah hoch. Gitterstäbe. Licht fiel durch die Gitterstäbe in seinen grau beleuchteten Verschlag. So weit war es mit ihm gekommen, so weit. Was nun? Sein tauber Kopf gab keine Meldung. Wenn er aber das allerletzte Treppenhaus hinaufstieg, dann gelangte er ganz oben zu Lotta. Lotta unterm Dachjuchhee. Wenn das nichts half. Er musste es nur schaffen, irgendwie hinaufzukommen, irgendwie hinauf. Sie musste ihm Wasser geben. Wasser, Wasser, er hatte solch einen Brand.
Einen Brühwürfel hatte Lotta noch. Einen Brühwürfel für eine Bouillon in ihrem kleinen Töpfchen auf der Kochplatte. Dazu eine halbvolle Dose Wiener Melange. Etwas Schokolade. Einen aufgerissenen Beutel mit staubigem Mehl für Kartoffelbrei. Ah, da stand noch eine Dose Früchtetee. Trotzdem.
Falls Ivy vorbeikommen sollte, hatte sie nichts, gar nichts. Brauchte ja nicht jeder zu wissen, dass sie heimlich vom Essenswagen aß, den sie jeden Tag durch die Gänge schob. Da war alles schon herrlich zubereitet – und immer blieb was übrig … ach, wie schmeckten morgens die frischen Brötchen und mittags der Gemüsetopf. Wieso sollte sie da noch was kochen, das war doch Blödsinn. Eine Tüte Chips, um vor dem kleinen, alten Fernseher von ihrem Bruder zu liegen, das reichte schon.
Lotta schaute sich um. Fünf Ecken machten jedes Zimmer gemütlich, aber der Himmel schien so sehr in den Raum hinein, das war nicht zu allen Tageszeiten schön. Noch war der Himmel hell und färbte sich bald in ein lichtes Grau und tröstete mit einem zimt- und honigfarbenen Streifen, der sich über den Dächern entzündete, schön war das. Sehr schön.
Lotta starrte in den Himmel. Wie sollte man den Himmel umrahmen? Welcher bunte, flatternde Passepartout würde ihn am schönsten umspielen? Und wie sah das Zimmer aus, wenn man abends die Gardinen zuzog, weil die Lichter der Stadt ungebeten in die Stube flackerten? Lotta hatte einen Stoff gekauft, gelb und mit braunen Sprengseln zart durchwebt, er war beruhigend und sollte das Zimmer gemütlich und warm machen. Das konnte Lotta gut brauchen, in einer Stadt, in die sie zurückgekehrt war wie eine Fremde.
Lotta hatte eine Idee. Sie stopfte den Stoff um die Flügel des halbrunden Fensters und heftete ihn mit Reißzwecken in dem Dichtungsgummi fest. Sie trat einen Schritt zurück … wunderbar! Im Grunde brauchte man die Gardine jetzt gar nicht mehr zu nähen. Sie hing fest und gleichzeitig weich fließend und verbreitete im Zimmer den beruhigenden Schein eines großen, untergehenden Mondes. Das war schön, im Herbst.
Lotta träumte aus dem Fenster hinaus, als es plötzlich laut klopfte und ein großer, blutbefleckter Mann zur Tür hereintaumelte und mit der Hand vor dem Gesicht »Guten Abend« sagte.
Ich bin’s.
Oh! Oh – Ivy! Ivy, du bist noch im Haus, ach je, ach Ivy, wie siehst du nur aus, komm rein, ach du mein Gott, um Gottes Willen, leg dich hin, oder …
Hast du einen Schluck Wasser?
Wasser?! Ja, Wasser, Wasser habe ich! Eine angebrochene Zwei-Liter … kann sein, dass nicht mehr viel Kohlensäure … warte!
Lotta rannte, so schnell man in diesem Zimmer rennen konnte, und hielt ihm die Flasche vor die Nase. – Willst du ein Glas?
Ach wo … Ivy hielt sich die Flasche an den Mund und trank und trank und trank. Trank um sein Leben, trank sich die Lungen, Herz und Nieren voll, er trank die Flasche leer.
Ou, ja, vielen Dank.
Hast du die ganze Zeit da unten im Keller gelegen?
Jou, man. Das habe ich. Ach Gott … Mensch, mir ist
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