Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
entdeckte ich die vier Bücher mit der Guten Botschaft des Gehenkten Erlösers. Darin standen die Worte des Gehenkten Erlösers, die er selbst zu seinen Jüngern sprach. Habt Ihr jemals die Gute Botschaft gelesen?«
»Nein.«
»Habt Ihr jemals mit jemandem gesprochen, der sie gelesen hat?«
Er lachte über diese verrückte Idee. »Natürlich nicht! Wieso hatte ein Dorfpfarrer die vier Bücher des Erlösers in seinem Besitz? Die Bücher dürfen nur von den Kardinälen gelesen werden, und dann auch nur ein einziges Mal, um zu verhindern, dass sie durch das menschliche Verständnis beschmutzt werden. Auf der Welt gibt es nicht einmal fünfzig Exemplare davon, und nimm es mir nicht übel, aber ich glaube nicht, dass die Bücher deines hinterwäldlerischen Priesters mitgezählt wurden.«
Sie schien zwar nicht beleidigt zu sein, wohl aber sehr erstaunt.
»Es war eine Abschrift. Ich bin sicher, dass es seine Handschrift war– er war kein geübter Schreiber, aber er schrieb sehr sorgfältig.«
»Also wurde es wohl eher aus dem Gedächtnis aufgezeichnet.« Es war klar, was er davon hielt, nämlich nicht viel.
»Interessiert es Euch denn nicht, was darin stand?«, fragte sie erstaunt.
»Nein.«
Sie ließ nicht locker.
»Es hieß, dass wir unseren Nächsten lieben sollten wie uns selbst, dass wir anderen nichts zufügen sollen, das man nicht selbst erdulden wolle, und wenn uns jemand auf die linke Backe schlägt, wir auch die rechte Backe hinhalten sollten.«
»Arsch oder Gesicht?«
»Es stimmt aber!«
»Und woher willst du das wissen?«
»Weil es in dem Buch selbst geschrieben steht.«
»In der Handschrift irgendeines verrückt gewordenen Erlösers. Zweihundert Schritt von hier entfernt verbrennen sie jedes Jahr ein Dutzend solcher Leute– Verrückte, Irre, denen angeblich das Wort Gottes in einer Vision enthüllt wurde. Der einzige Unterschied ist, dass dein Verrückter wenigstens genug Verstand hatte, sein Gequassel unter Schloss und Riegel zu halten.«
»Es war die Wahrheit. Ich weiß es.«
»Das behaupten alle– stand sonst noch was drin?«
»Friede und Wohlgefallen unter allen Menschen«, sagte sie.
Cale lachte, als hätte er noch nie etwas derart Lustiges gehört. »Zu komisch, kitzle mich unter dem anderen Arm«, sagte er. »Gehorsam und Leiden… Wer nachgibt, wird es büßen müssen… Das sind die Lehrsätze, die von den Erlösern verbreitet werden.«
Sie schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an, wie diese seltsame Kreatur im Zoo von Memphis, dachte Cale, das Ding, das einen Zeigefinger hatte, der halb so lang war wie sein Körper.
»Wer Kindern etwas zu Leide tut, wird bestraft werden. Und es wäre besser für sie, würden sie mit einem Mühlstein um den Hals im Meer ertränkt.«
Seltsamerweise fand Cale dies nicht sehr lustig. Geraume Zeit herrschte Schweigen. Sie saß auf der Kante ihrer Pritsche und wirkte klein, schwach und verloren, und als er über das nachdachte, das sie in die Todeszelle gebracht hatte, fühlte er sich unwohl.
»Ich werde versuchen, dir noch mehr zu essen zu beschaffen.« Das war der einzige Trost, den er ihr anbieten konnte. Sie schaute ihn an, und wieder fühlte er sich furchtbar, grauenhaft alt– und böse, sehr böse.
»Könnt Ihr mir helfen, hier herauszukommen?«
»Nein. Ich wünschte, ich könnte es, aber ich kann es nicht.«
Als er aus dem Haus für Sonderbehandlungen trat, stellte er fest, dass der Winter endlich begonnen hatte. Im großen Hof der Erlöserburg lag frischgefallener Schnee, weiß und jungfräulich. In den unbelaubten Bäumen husteten die Krähen, als Cale unter ihnen hindurchstapfte, und die Wachhunde mit ihren scharfen Zähnen bellten die Kälte an, als sei sie ein Dieb oder Ausbrecher. Nichts konnte den trostlosen Gebäuden der Burg einen Reiz verleihen, aber die leichte Schneedecke, beleuchtet von einem Mond, der sich immer wieder hinter den Wolken versteckte, verlieh der Erlöserburg eine kühle Schönheit– solange man hier nicht leben musste.
Später bat er Bosco um Erlaubnis, der Maid Nahrung schicken zu dürfen.
»Das kann ich nicht zulassen.«
»Ihr wollt es nicht.«
»Nein. Ich kann es nicht. Du kennst offenbar das Sprichwort nicht: ›Ein Löwe im eigenen Haus, ein Spaniel draußen in der Welt‹?«
»Nein.«
»Nun, jetzt kennst du es.«
»Was ist ein Spaniel?«
»Ein kleiner Hund, berüchtigt dafür, dass er jedem lieb tun will. Ich kann begründen, warum du in ihrer Zelle warst– aber nur ein einziges Mal. Wenn
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