Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
es bekannt würde, und das wäre innerhalb weniger Tage der Fall, dass ich ihr erlaubt hätte, mehr zu essen, als nötig ist, um sie bis zur Hinrichtung am Leben zu erhalten, würde man mich sofort als Ketzer anklagen. Und das wäre ich dann auch. Ihre Sünden gegen den Erlöserglauben kann man kaum noch ermessen.«
»Ich habe es ihr versprochen.«
»Dann bist du ein noch größerer Narr, als ich dachte.«
»Ihre Sünden lassen sich nicht ermessen, weil sie eine Abschrift der Sprüche und Reden des Gehenkten Erlösers las und ihr Wissen anderen mitteilte?«
»Ja.«
»Ihr habt das Buch verbrannt, das sie gefunden hatte, nehme ich an?«
»Das schien mir am besten.«
»Und?«
»Was und?« Boscos spöttische Neckerei nahm fast fröhliche Züge an.
»Das Buch der Sprüche und Reden des Gehenkten Erlösers– was war es denn nun?«
»Es war das Buch der Sprüche und Reden des Gehenkten Erlösers.«
Schweigen.
»Ihr macht Euch über mich lustig.«
»Stimmt. Aber das ändert nichts daran: Es war die Abschrift der Sprüche und Reden des Gehenkten Erlösers.«
»Eine gute Abschrift.«
»Gut genug– mit ein paar Fehlern, aber er war ein intelligenter Mensch mit einem hervorragenden Gedächtnis.«
»War?«
»Jetzt bist du aber wirklich absichtlich schwer von Begriff.«
»Warum war das so sündhaft, was sie tat?«
Bosco lachte. »Wie du selbst sagtest: Das Wort Gottes wird durch das menschliche Verständnis allzu leicht beschmutzt. Das ist übrigens unglaublich gut formuliert. Hast du etwas dagegen, wenn ich es in einer Predigt zitiere?«
»Ihr habt mir tatsächlich zugehört?«
»Hast du etwas anderes vermutet?«
Einen Augenblick lang gab Cale keine Antwort. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, eigentlich nicht. Ich habe es einen Freund in Memphis sagen hören. Aber er scherzte nur.«
Bosco war ein wenig enttäuscht, denn er war ziemlich stolz auf Cale gewesen, als er diesen Spruch von ihm gehört hatte. Der Satz war schließlich zutreffend gewesen. Bestimmt war der Junge nun enttäuscht darüber, dass er sein dem Mädchen gegebenes Versprechen nicht einlösen konnte, und die Enttäuschung hatte nun auch seiner Eitelkeit den Wind aus den Segeln genommen. Aber was sprach dagegen, ihm seine, Boscos, Entscheidung zu erklären?
»Selbst mit jenen Erlösern, denen noch nicht bewusst ist, dass Gott sich entschlossen hat, von Neuem zu beginnen, stimmen wir in diesem Punkt überein: Wenn es um Männer und Frauen geht, finden die Verwirrungen und Streitigkeiten über alles und jedes kein Ende. Es gibt keine direkte Aussage aus Gottes Mund, egal, wie einfach und leicht verständlich sie auch sein mag, die nicht sofort dazu führt, dass sie einander im Streit über ihre wahre Bedeutung an die Kehle gehen. Das bedeutet für mich: Wer der Menschheit das Wort Gottes öffentlich zugänglich macht, wirft Perlen vor die Säue. Wie auch immer: Was die Maid vom Amselfeld getan hat, ist unverzeihlich.«
Später in der Nacht brachte der Schnee der Ordensburg mehr als nur eine ungewohnte Schönheit– er zwang auch den Erlösergeneral Guy Van Owen, Zuflucht in der Burg zu suchen. Der General hatte vor dem großen Tor mehr als zehn Minuten lang warten müssen, weil sich die Wärter geweigert hatten, ihn einzulassen, und war entsprechend übler Laune. Van Owen hatte eigentlich zu seinem Kommandoposten an den Golanhöhen zurückkehren wollen, von dem aus er die Ostfront schützte, eine Reise, die normalerweise in rund zwanzig Meilen Entfernung an der Ordensburg und Bosco vorbeiführte. Aber der Schnee hatte den Weg unpassierbar werden lassen, und da er auf diesen plötzlichen Einbruch extremer Wetterverhältnisse nicht vorbereitet gewesen war, sah er sich gezwungen, Zuflucht zu suchen, wo immer er sie fand, oder im Freien zu erfrieren. Er hasste Bosco auch deshalb, weil er vor dreißig Jahren vermutet hatte, Bosco habe während einer seiner Predigten über die Heilige Emulsion herablassend gelächelt. Tatsächlich hatte sich Bosco schlicht gelangweilt und lediglich an die heiße Schokolade gedacht, die er nach Van Owens Predigt zu trinken gedachte– eine seltene Leckerei, die nur an diesem besonderen Feiertag genossen werden durfte, da der betreffende Heilige bei lebendigem Leibe in einer Brühe aus braunem Rohrzucker gekocht worden war.
Nach geraumer Zeit tauchte Bosco auf einem der Türme auf, die das große Tor bewachten.
»Wer seid Ihr, und was begehrt Ihr?«, rief er hinunter.
»Ihr wisst verdammt gut, wer ich bin«,
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