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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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sie dicht an dicht in Reihen auf dem bloßen Fußboden. In den Räumen stank es entsetzlich, aber ich merkte es nur, wenn ich von draußen hereinkam.
    Die Ärzte und Krankenschwestern und die wenigen Helfer wurden von Tag zu Tag gereizter. Sie schnauzten bloß noch herum und wiesen alle Kranken ab, die noch gehen und sehen konnten.
    »Für euch sind die Schulsäle da«, hieß es. »Wir können uns nur noch um die schwersten Fälle kümmern.«
    Sie fanden kaum Zeit, ein paar Stunden zu schlafen. Manche Helfer blieben plötzlich weg und kamen nicht wieder. Sie wußten ja, daß es keine Behörden und keine Chefs und keine Gesetze mehr gab. Die meisten hatten auch genug Sorgen mit ihren eigenen Familien daheim. Aber ab und zu tauchten neue Helfer auf, manchmal nur für ein paar Stunden, manchmal für Tage, und irgendwie ging es wieder weiter.
    Eine große Hilfe war die alte Lisa Bartz aus dem Seniorenheim. Sie war damals schon über siebzig, aber sie kümmerte sich unermüdlich um die Kranken. Man sah sie tags und nachts in den Sälen herumwieseln. Sie schien niemals zu schlafen. Zwar konnte sie keine Wassereimer mehr schleppen, aber sie war groß im Trösten.
    »Dabei war sie selber untröstlich gewesen, als ihr Sohn sie ins Altersheim abgeschoben hat«, sagte einmal Frau Kramer, als ich von ihr erzählte.
    »Jetzt lebe ich wieder«, sagte Lisa zu mir. Sie sagte es richtig heiter. Dabei war es doch ein Hundeleben im Hospital - ein einziges Gehetze, immer getrieben von Gebettel, Gejammer und Todesnot. Unsere Hilfe war wie ein Tropfen auf den heißen Stein.
    Ich bestürmte meine Mutter, ins Hospital zu kommen. Judith konnte sich um Kerstin kümmern. Aber der Vater antwortete  für sie: »Du weißt doch, daß sie so was nicht sehen kann.«
    »Ich hab mich auch dran gewöhnt!« rief ich.
    »Sie ist noch nicht über den Schock weg«, sagte er.
    Da war ich wütend auf meine Eltern. Ich beschwerte mich über sie bei der alten Lisa. Die schien sich nicht zu wundern. Sie nickte und sagte: »Du mußt Nachsicht mit ihnen haben. Vor der Katastrophe ging es allen so gut, daß niemand Hilfe brauchte. Da hat man's verlernt, anderen beizustehen. Und wo wirklich mal Hilfe nötig war, hat sie einem der Staat abgenommen. Daher denkt heute jeder nur noch an sich selber. Auch deine Eltern. Sie stammen eben aus einer herzkalten Zeit.«
    Das leuchtete mir ein. Und wenn ich abends spät heimkam und sah, wie die Mutter weinte und der Vater sie unbeholfen zu trösten versuchte, taten sie mir leid.
    Immer wieder gerieten die Schwestern und Pfleger im Hospital in Streit mit den Angehörigen der Patienten. Die wollten die Kranken nicht alleinlassen, wollten sie pflegen und ihnen beistehen. Aber das war nicht möglich. Der Platz reichte nicht aus. Nicht einmal die Kinder durften bei den Müttern bleiben - nur die Säuglinge. Es war manchmal entsetzlich anzusehen, wenn die Schwestern die Kinder von den kranken Müttern wegzerrten und hinausschoben. Die Mütter jammerten, die Kinder schrien.
    Im Hof des Hospitals kauerten Kinder jeden Alters. Manche heulten, andere starrten stumm und verstört vor sich hin. Zu verhungern brauchten sie nicht: Die Frauen, die die Suppe austeilten, kamen auch zu ihnen und schwappten ihnen eine Kelle voll dünner Brühe auf die Teller, die sie hinterher wieder einsammelten und in der Schewe wuschen. Aber niemand kümmerte sich um sie, niemand tröstete sie, niemand half ihnen über die quälende Sehnsucht nach ihren Eltern hinweg. Wenn drinnen eine Mutter oder ein Vater starb, sagte ihnen niemand Bescheid, weil niemand wußte, wer zu wem gehörte. Es gab ja keine Verwaltung, keine Karteien mehr. Niemand kannte den Namen des anderen.
    Als ich wieder einmal durch die Reihen ging und den Patienten zu trinken gab, zupfte mich eine Frau am Ärmel. Ich konnte nicht sehen, wie alt sie war. Ich wußte nicht einmal, wie sie aussah, denn ihr Gesicht war eine einzige Wunde, ihr Mund ein ausgefranstes Loch. Das Wasser, das ich ihr zu trinken gab, konnte sie nicht mehr schlucken. Was sie sprach, konnte ich kaum verstehen. Ich mußte mich tief zu ihr hinunterbeugen.
    »Draußen sind meine Kinder«, röchelte sie. »Mit mir ist es bald aus. Mein Mann ist tot. Sie sind erst drei und sechs Jahre alt. Kümmere du dich um sie.«
    »Ich?« fragte ich ganz verwirrt. »Aber ich bin doch keine Frau -«
    »Ich hab ja schon versucht, mit den Schwestern zu reden«, ächzte sie. »Aber sie haben keine Zeit zuzuhören. Du bist immer ruhig

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