Die letzten Kinder von Schewenborn
beiseiteschaffen.
Auch die Kioske und Zigarettenautomaten wurden ausgeraubt. Dann kamen die Tankstellen dran. In Eimern und Kannen schleppten die Leute das Benzin heim. Jeder wollte sich eine Fluchtmöglichkeit sichern - für später, denn noch waren die Straßen rings um Schewenborn unpassierbar. Dabei ging noch einmal ein Haus in Flammen auf, und zwei Nachbarhäuser brannten mit ab. Einer der Nachbarn erschlug den Burschen, der eine brennende Kippe in eine Benzinpfütze hatte fallen lassen. Niemand nahm den Mörder fest, niemand bestrafte ihn.
Ich sah zu, wie eine Gruppe junger Männer durch die offenen Schaufenster von Mattheißens Fahrradgeschäft kletterten und die Fahrräder herausholten. Herr Mattheißen war von einem Fassadebrocken erschlagen worden, und Frau Mattheißen hatte in ihrer Aufregung nicht daran gedacht, die Fahrräder verschwinden zu lassen. Mit Fahrrädern ließ sich vorankommen, auch über Schuttberge, wenn man sie darüberschob.
Aber wohin sollte man denn fahren wollen? dachte ich.
Einmal sah ich den Vater am Hospitaltor vorüberkeuchen. Er trug einen Sack geschultert. Er hatte also auch geplündert. Als ich heimkam, sah ich den Sack in der Werkstatt stehen. Er war voll Kohle. Der Vater war schon wieder unterwegs, um noch mehr Kohle zu holen. Er hatte Judith mitgenommen.
»Wozu brauchen wir Kohle?« rief die Mutter wütend. »Wenn es kalt wird, sind wir längst nicht mehr hier!«
»Wo sind wir dann?« fragte ich erstaunt.
»Na, wo schon?« rief sie. »Zu Hause natürlich! Los, lauf dem Vater nach und lös Judith ab. Die heult.«
Ich fand sie beide im Hof von Arnolds »Landhandel«. Dort schippten sie zwischen vielen anderen wie irr Kohle in ihre Säcke. Ihre Gesichter waren voll Kohlenstaub. Judith liefen schwarze Rinnsale über die Wangen. Sie wischte sich dasGesicht am Ärmel ab, als sie mich sah.
»Geh heim, ich mach weiter«, sagte ich zu ihr. Da lief sie weg. Aber als wir mit unseren Säcken zu Hause ankamen, war sie nicht da.
Ich suchte überall. Schließlich kam die Mutter auf den Gedanken, sie könnte in Großvaters Garten am Fleyenhang sein. Dort fand ich sie auch. Sie saß auf der Bank vor dem Gartenhaus und kämmte sich ihr langes braunes Haar mit einem Kamm, der der Großmutter gehört hatte. Schon immer, seit ich mich erinnern kann, hatte er seinen festen Platz auf einem Querbalken des Gartenhauses gehabt.
Sie hatte mich nicht kommen hören: Das Gras wehte, die Bäume rauschten. Da hörte ich sie leise singen. Das machte mich froh.
Von da an erlaubte die Mutter, daß Judith das Haus verließ. Die ging nun jeden Tag in Großvaters Garten, auch wenn es regnete. Kerstin quengelte so lange, bis sie mitdurfte. Ich beobachtete die beiden manchmal aus den Fenstern des Hospitals: Judith schaute weder nach rechts noch nach links und antwortete nicht, wenn jemand sie ansprach. Kerstin aber fand so viel zu sehen, daß sie sich nur widerwillig mitzerren ließ.
Es war ein richtiger Bilderbuchsommer: Tag für Tag Sonne und Wärme, Badewetter, Wanderwetter - aber niemand wagte zu baden oder durch die Felder und die Reste der Wälder zu wandern und Walderdbeeren, Heidelbeeren oder Himbeeren zu pflücken. Das Wasser in den Bächen, der Wald, die Beeren konnten radioaktiv verseucht sein. Man witterte überall Gefahr, mißtraute der friedlichen Landschaft, fühlte sich der Natur gegenüber verunsichert. Trotzdem schöpften die meisten Schewenborner Wasser aus der Schewe: Ohne Wasser ging nichts mehr, ohne Wasser gibt es kein Leben. Aber die Mühe, jeden Tropfen Wasser aus den Wäldern zu holen, von Quellen, die eine Wegstunde oder mehr von der Stadt entfernt lagen, nur um garantiert unverseuchtes Wasser zu haben - eine solche tagtägliche Mühe nahm fast niemand mehr auf sich, konnte sich kaum einer leisten.
»Wir kochen das Wasser ja ab«, versicherte man sich einander.
Im Hospital wurde das Wasser nicht abgekocht. Wer hätte das auch besorgen sollen bei den Mengen, die die Kranken und Verletzten tranken? Inzwischen war eine Schlauchleitung von der Schewe zum Hospital gelegt worden. Eine Hand-pumpe hatte sich auch auftreiben lassen. Nun brauchte ich nur noch die vollen Eimer die Treppen hinaufzutragen. Sie wurden mir in den einzelnen Stockwerken fast aus den Händen gerissen. Wenn doch nur mehr Leute bereit gewesen wären mitzuhelfen!
Zwar mußten die Patienten nun nicht mehr unter freiem Himmel sein, aber das Gebäude war überfüllt: In allen drei Stockwerken und im Keller lagen
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