Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
Vom Netzwerk:
doch hier nicht stehenbleiben«, sagte ich.
    »Ich mach ja schon, daß ich wegkomme«, sagte er finster. »Es geht nur nicht so schnell, weil die Hände so steif sind.«
    »Soll ich dich irgendwohin fahren?« fragte ich. »Nur - nach Hause kann ich dich nicht mitnehmen. Das erlauben meine Eltern nicht.«
    »Nein«, sagte er, »ich würde nicht zu euch heimwollen, auch wenn ihr mich haben wolltet. Jetzt nicht mehr. Wenn du mir helfen willst, dann los! Aber frag nicht. Wirf den Strick da über den Ast.«
    Er zog den Strick hervor und hob ihn hoch. Es war ein langer Strick. Es mußte viel Zeit gekostet haben, ihn zu reißen und zu flechten. Ich warf ihn über den Ast und gab Andreas die beiden Enden in die Hände. Er reckte sich und knüpfte eine Schlinge. Ich versuchte herauszufinden, was er vorhatte. Das begriff ich erst, als er seinen Kopf durch die Schlinge steckte.
    »Du bist ja verrückt!« rief ich und zog ihm die Schlinge vom Kopf.
    Da begann er, zu bitten und zu betteln. Ich stand neben seinem Wagen, steckte die kalten Hände in die Hosentaschen, klemmte den Eimer, in den ich sauberen Schnee zum Wäschewaschen hatte sammeln sollen, zwischen die Beine und sah Andreas nicht an. Es schneite mir am Nacken in den Kragen.
    »Mir hat's am Bombentag die Beine abgeschlagen«, sagte er. »Die ganze übrige Familie war gleich tot. Ich hatte das Pech, daß ich nicht verblutet bin. Die Nicole, die blonde, hat mich vorher schon gekannt. Sie hat zwei Häuser weiter gewohnt. Sie hat mich verbunden, so gut sie konnte. Sie hat mich in den Kinderwagen ihrer toten Schwester gesetzt und bis hierher geschoben. Ohne sie bin ich verloren. Wer will mich schon pflegen?«
    »Ja«, sagte ich, »das stimmt.«
    »Soll ich warten, bis ich verhungert bin?« fragte er. »Schon seit drei Tagen habe ich nichts mehr gegessen, nur Schnee geleckt. Tu's doch. Die Schuld nehm ich auf mich. Du brauchst mir ja nur den Wagen unterm Hintern wegzuschieben.«
    Ich dachte nach. Ich kaute auf der Unterlippe und überlegte, ob ich davonrennen sollte. Aber das wäre die allermieseste Art gewesen, mich vor dieser Entscheidung zu drücken. So versuchte ich, sie hinauszuzögern.
    »Glaubst du, man trifft seine Leute nach dem Tod wieder?« fragte ich.
    »Meine Eltern?« fragte er finster. »Ich will sie nicht wiedersehen. Zum Teufel mit ihnen und ihrer ganzen Generation. Sie hätten das alles verhindern können. Sie haben es kommen sehen. Sie haben untätig zugeschaut. Sie haben nicht versucht, uns vor dem Untergang zu beschützen. Warum haben sie uns überhaupt gezeugt, wenn ihnen so wenig an uns lag?«
    Die Schlinge pendelte zwischen ihm und mir. Schneeflocken setzten sich darauf.
    »Ich sitze in meinem Dreck«, sagte er. »Ich bin schon ganz wund. Sie hat mich saubergehalten und hat mir zu essen gebracht. Sie ist nicht mehr da. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich fort möchte aus diesem Elend? Das ist kein Leben mehr. Bitte!«
    Er griff wieder nach der Schlinge. Diesmal riß ich sie ihm nicht aus der Hand. Er bedankte sich und legte sie sich um den Hals.
    »Fertig«, sagte er. »Du mußt aber fest treten, hörst du?«
    Ich schluckte. Dann trat ich mit aller Gewalt gegen den Wagen, daß er fortschoß, und rannte davon. Erst am Ende des Parks schaute ich mich um. Da pendelte Andreas noch.
    Ein paar Stunden später ging ich wieder hin und machte ihn ab. Er war ganz verschneit. Den Kinderwagen hatte noch niemand entdeckt und weggeholt, denn er war umgekippt und lag unter Neuschnee. Man sah nur den kleinen Hügel. Ich legte Andreas in den Wagen. Er war ja nicht schwer, so mager und ohne Beine. Ich schob den Wagen bis in den Wald auf der anderen Seite der Stadt. Unterwegs traf ich die Frau Kernmeyer. Sie war mit Holz beladen. Sie fragte mich, was ich im Wagen habe. Ich sagte, es sei Müll. Gott sei Dank schaute sie nicht unter das Dach. Dann hätte sie mich sicher gefragt, warum ich mir um einen fremden Toten so eine Mühe machte.
    Ich schob Andreas bis in den alten, zugewachsenen Steinbruch, in dem ich in den Ferien immer gespielt hatte. Durch Zufall hatte ich dort einmal eine kleine Höhle entdeckt. Sie lag so versteckt, daß sie kein anderes Kind bisher gefunden hatte.
    Ihr Eingang führte durch einen hohlen Baum. Sie lag zwischen den Wurzeln und war so niedrig, daß ich nur darin kauern und kaum die Arme ausstrecken konnte. Diese Höhle brauchte ich ja nun nicht mehr. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich jemals wieder hier spielen würde. Und so hab ich

Weitere Kostenlose Bücher