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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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den Schnee über dem Eingang weggescharrt und den Andreas da hineingeschoben. Die Höhle war gerade groß genug, daß er ausgestreckt darin liegen konnte. Vor das Eingangsloch legte ich einen großen flachen Stein. Der kostete mich viel Mühe, bis ich ihn vom Boden loshatte. Es war ein kalter Tag.
    Den Kinderwagen wollte ich erst über den Hang in den Steinbruch hinunterstoßen, aber dann fiel mir das Geschwisterchen ein, das ich bekommen sollte, und da schob ich ihn heim. Nur die schmutzige Matratze schleuderte ich in den Steinbruch. Darauf sollte das Neue nicht liegen. Darauf nicht!
    Daheim erzählte ich, daß ich den Wagen im Schloßpark gefunden hätte. Das war ja nicht gelogen. Die Mutter war hingerissen. Sie machte sich gleich daran, ihn zu säubern und auszustatten. Tagelang nervte sie den Vater und mich, indem sie uns die Fortschritte ihrer Näharbeiten vorführte: eine Matratze aus einer halbverbrannten Steppdecke, die noch aus Großmutters Dachbodengerümpel stammte, ein Deckbettchen aus einem von Großmutters Daunenkopfkissen, mit einem Bezug aus weißem Damast, der noch Großmutters Monogramm trug.
    »Ist es nicht süß?« fragte sie immer wieder und wollte gelobt sein. Vater und ich warfen uns Blicke zu, aber wir taten natürlich begeistert. Wir waren ja froh, daß sie wieder munterer wurde und nicht immerzu nur an die Toten und die gute alte Zeit dachte.

9
    Im Januar begann die dritte Sterbewelle in Schewenborn. Diesmal starben die Schewenborner nicht an einer Seuche, sondern vor Hunger. Nur wenige von den Hunden, die es noch in der Stadt gab, überlebten diesen Winter. Es gab niemanden mehr, den es vor Hundefleisch ekelte.
    Manche Leute aber drehten durch, zum Beispiel der junge Dreesen. Den ganzen Sommer und Herbst über hatte er seinen roten Sportwagen gepflegt und geputzt. Der war weder ausgebrannt noch von Trümmern zerdrückt worden, und die Garage stand auch noch. Wenn die Leute den Dreesen fragten: »Was soll das? Du kannst ja doch nicht mehr fahren«, hatte er nur gelacht. Seit dem Bombentag hatte er - wenn er nicht beim Verbrennen der Toten half - mit einer Schubkarre Schutt aus den Straßen geräumt: aus der Fuldaer Straße, der Hintergasse, dem Mauerweg und bei uns am Südtor. Die Leute hatten ihn gelobt, und viele hatten ihm geholfen. Wir am Südtor konnten schon seit Weihnachten über den Mauerweg hinauf in die Hintergasse gehen, von dort in die Kurve der Fuldaer Straße einbiegen und auf ihr wieder hinunter ans Südtor zurückkommen, ohne über Trümmer klettern zu müssen. Das hatten wir dem Dreesen zu verdanken.
    Jetzt, im Januar, bekamen die Schewenborner etwas Merkwürdiges zu sehen und zu hören: Dreesen fuhr an einem sonnigen Sonntag, als kaum Schnee lag, seinen blankgewienerten Wagen aus der Garage, stellte seinen Kassettenrecorder im Wagen auf höchste Lautstärke und fuhr die vier Straßen, die er freigeräumt hatte, immer rundherum, rundherum, stundenlang. Seine Eltern wollten ihn anhalten, wollten ihn beruhigen, aber er fuhr sie fast um. Er hörte nichts. Er fuhr und fuhr, und immer so schnell, daß er gerade noch um die Ecken kam. Die Musik aus seinem Recorder hallte durch die ganze Stadt Wer nicht schon am Sterben war, schleppte sich an die Rennstrecke. Ein Auto! Musik! Es war wie früher, wie vor dem Bombentag. Manche weinten. Und Jens staunte. Er konnte sich an kein fahrendes Auto erinnern. Für ihn war der rote Sportwagen ein Wunder.
    Meiner Mutter aber setzte die Musik zu. Sie war schon immer verrückt nach Musik gewesen, aber nach klassischer. Schubert war ihr Lieblingskomponist. Sie hatte dieses »Pop-Gequäke« gehaßt. Jetzt trieben ihr Dreesens Songs, die lauter und leiser wurden, je nachdem, wo der Wagen gerade war, die Tränen in die Augen. Alle die alten, vertrauten, abgedroschenen Melodien; DSCHINGIS KHAN und DON'T CRY, ARGENTINA und EIN BISSCHEN FRIEDEN und viele andere, und immer noch einmal von vorn, und niemand wollte ein Lied versäumen, auch wenn er Hände und Füße vor Kälte nicht mehr spürte.
    Als das Benzin fast alle war, bog Dreesen aus der Fuldaer Straße nicht mehr ins Südtor ein, sondern fuhr geradeaus weiter, mit Vollgas in den Trümmerhaufen hinein, der die ganze Straßenbreite bis zur Hohe des ersten Stocks ausfüllte und der noch jetzt da liegt und wohl immer da liegenbleiben wird. Aus Dreesens schönem Wagen schoß eine Stichflamme. Dreesen verbrannte in seinem Wagen. Das hatte er wohl auch vorgehabt. Aus dem brennenden Auto war noch ein

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