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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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legte ihr Ohr an die Tür, um zu lauschen. Das tat ich auch. Wir hörten lange nichts als Mutters Schluchzen. Der Vater blieb stumm. Er wartete, wie uns schien, bis sie von selbst zu erzählen anfing.
    »Fulda ist weg«, sagte sie plötzlich.
    Der Vater schwieg immer noch,  »Ob du's glaubst oder nicht«, hörten wir die Mutter erregt sagen, »es ist alles weg - auch Horas und Sickels und alle die anderen Vororte -, einfach wie weggefegt! Ich bin auf einen Hügel gestiegen, von wo aus man Fulda liegen sehen kann. Da war nichts zu sehen als eine schwarze, wellige Fläche. Kein Baum, kein Haus, nur hier und dort ein abgebrochener Betonsockel. Erst in Gläserzell soll es Überlebende gegeben haben. Ich bin Kämmerzellern begegnet. Sie waren grauenhaft zugerichtet: verbrannt, verstümmelt, blind. Sie kommen das Fuldatal herab. Sie suchen nach Ärzten und Verbandplätzen, nach Lebensmitteln und Unterkünften. Sie schleppen sich am Fuldaufer entlang, denn die Dörfer im Fuldagrund und die Wälder brennen, und die Straßen sind versperrt von umgestürzten Bäumen und Lichtmasten und Trümmern. Ich bin auch an der Fulda entlanggewandert. Dort versammeln sich die Halbverbrannten. Ich bin vielen begegnet, die vor Durst halb wahnsinnig waren. Sie haben aus dem Fluß getrunken, der voll Asche und Leichen und sicher radioaktiv verseucht ist. Die das Ufer nicht mehr erreichen können, werfen sich auf die Erde und saugen das Wasser aus den feuchten Wiesen. Viele von ihnen sind nackt. Es hat ihnen die Kleider vom Leib gesengt. Die Fulda-Auen liegen voll von Leichen: im Ufergestrüpp, im Schilf, zwischen den toten Kühen auf den Koppeln. Gehäutete Leichen, verbrannte Leichen -«
    Sie fing wieder an zu weinen. Wir hörten Vaters Stimme. Aber er sprach so leise, daß wir ihn nicht verstehen konnten.
    »Und Kinderleichen«, rief sie, »so viele Kinderleichen!«
    Wieder sprach der Vater. Er sprach sehr ruhig.
    »Und trotzdem gibt's noch so viele Überlebende«, schluchzte die Mutter. »Sie kommen nur langsam voran, so am Ende, wie sie sind. Ich habe sie alle überholt. Aber morgen werden sie hier sein. Morgen wirst du sie auch sehen können, die Gehäuteten und Haarlosen, sie werden ganz Schewenborn füllen. Laß unsere Kinder in den nächsten Tagen nicht vor die Tür. Von dem, was sie dann sehen müßten, bekämen sie einen Schock fürs Leben!«
    Es wurde sehr Still. Aber nach einer Weile sagte die Mutter deutlich: »Sie werden nicht wiederkommen, Klaus.«
    Ich hielt den Atem an.
    » Wer wird nicht wiederkommen?« flüsterte ich in der Dunkelheit zu Judith hinüber. »Die Großeltern«, flüsterte sie zurück. »Wir können zurückfahren«, hörten wir die Mutter sagen.
    »Gleich morgen.« »Zurückfahren?« fragte der Vater. »Hast du die Bäume auf der Straße vergessen? Wir sitzen hier fest, Inge. Wir müssen
    erst warten, bis die Straßen wieder offen sind. Oder willst du  zu Fuß nach Bonames wandern?«
    »Aber wenn hier alles verseucht ist?« fuhr die Mutter auf.
    »Dann ist es sowieso zu spät für uns«, sagte der Vater. »Du bist ja auch noch mitten hineingerannt -«
    »Du meinst«, stöhnte die Mutter, »es gibt nichts mehr zu hoffen?«
    »Laß uns hoffen, daß wir Glück gehabt haben«, sagte der Vater. »Der Wind kam nicht von Fulda her. Laß uns an eine winzige Chance glauben, Inge.«
    »Ja, ja«, rief die Mutter. »Wozu hätten wir sonst überlebt?«
    Dann wurde es in der Küche endgültig still. Die Tür zur guten Stube knarrte. Ich glaube, unsere Eltern schliefen in dieser Nacht auf dem Flauschteppich. Jedenfalls war er am nächsten Morgen voller Asche.
    Wir tasteten uns in die Betten und lagen noch lange wach, Judith und ich.
    »Aber die Menschen«, flüsterte ich. »Wo sind denn alle Menschen hin, die in Fulda gelebt haben? Fulda hat - hatte sechzig- oder siebzigtausend Einwohner. Die können doch nicht einfach weg sein?«
    »Warum nicht?« antwortete Judith. »Man hat nur Mühe, sich das vorzustellen.«
    »Und wenn hier alles verseucht ist?« fragte ich.
    »Es klang so«, sagte Judith langsam, »als ob wir dann auch sterben müßten - bald.«
    »Kannst du dir das vorstellen?«
    »Nein«, sagte Judith. »Noch nicht.«
    Ich lauschte noch eine Weile den klagenden Stimmen, die aus der Stadt hereindrangen, und dachte an meine Großeltern. Ich versuchte, sie mir wie die Überlebenden in den Fulda-Auen vorzustellen. Aber das konnte ich nicht. Dann dachte ich sie mir tot. Auch dabei setzten meine Gedanken aus. Ich fühlte

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