Die letzten Kinder von Schewenborn
wir ihn abgestellt hatten, und holte den Rest unseres Gepäcks. Den Wagen sperrte er nicht einmal mehr ab. Aber das merkten wir erst viel später. Nun hatten wir genug Kleidung für drei oder vier Wochen. Wir brauchten vorläufig auch noch nicht zu hungern, denn die Großmutter hatte uns Kühlschrank und Keller gut gefüllt hinterlassen. Nur, daß der Kühlschrank nicht mehr kühlte. Wir mußten so schnell wie möglich verbrauchen, was faulen oder schimmeln konnte.
Aber schon vom zweiten Tag an hatten wir keine Milch mehr, vom dritten an kein Brot. Ich bot mich an, in der Stadt nach Milch oder Brot herumzufragen, aber die Mutter ließ mich nicht hinaus. Ich durfte nur hinters Haus. Von dort sah man nichts als Gärten. Wo ich mir doch so gern die Verwüstungen angeschaut hätte! Vor allem, wo war der Kirchturm geblieben? Und wo kam dieses Dämmerlicht her, in der die Sonne als dunkelrote Scheibe stand?
Der Vater ging selber in die Stadt, um irgendwo Milch und Brot aufzutreiben. Aber es gab nirgends etwas zu kaufen. Wer keine Vorräte besaß, war schlecht dran. So viele Leute hatten ihre Wohnungen, ihre Häuser verloren! Frau Kramer, die oft zu uns herüberkam, zählte immer neue Namen auf. Die Obdachlosen von Schewenborn hatten wohl fast alle ein Unterkommen bei Verwandten oder Bekannten gefunden, aber die Überlebenden aus der Fuldaer Umgebung schleppten sich hungrig durch die Straßen. Den schmutzigen Gestalten in den zerfetzten und angesengten Kleidern wollte niemand gern etwas von dem abgeben, was man selber so dringend brauchte. Die Fragen wurden immer lauter: »Wo bleibt die Rettung? Wo bleibt das Rote Kreuz? Warum setzen sie nicht die Bundeswehr ein, um uns zu helfen? Warum läßt sich kein einziger Hubschrauber sehen? Dieses Katastrophengebiet liegt doch nicht irgendwo abseits, sondern mitten in Europa!«
Es war ein beklemmendes Leben, von dem man nicht wußte, wie es weitergehen würde. Jeden Tag entstanden neue Gerüchte, Dabei wußte niemand etwas Genaues, denn es gab keine Zeitungen mehr, kein Fernsehen, kein Radio, kein Telefon. Auch mit batteriebetriebenen Geräten konnte man nichts mehr empfangen, denn es gab kein Programm mehr. Kein Programm? Das war rätselhaft.
»Es muß an atmosphärischen Störungen liegen, daß wir hier nichts mehr empfangen können«, sagte Frau Kramer. »Ob jetzt Krieg herrscht?« fragte Frau Mackenhäuser, bei der Frau Kramer untergekommen war. »Es kann ja auch durch ein Versehen passiert sein«, sagte Frau Kramer.
Und jeden Tag fanden sich mehr Flüchtlinge, mehr Obdachlose aus der Umgebung von Fulda in Schewenborn ein. Es hatte sich wohl herumgesprochen, daß man sich in unserem Hospital um Verletzte kümmerte.
»Es hätte längst geschlossen werden müssen«, sagte der Vater, als er einmal aus der Stadt zurückkam. »Es ist schon viel zu voll. Da herrschen unhaltbare Zustände.«
Am nächsten Tag ging ein wildes Gerücht um: Überlebende aus dem Norden seien in der Stadt und hätten berichtet, auch Kassel sei weg.
»Jetzt wird mir manches klar«, sagte der Vater. »Es sieht so aus, als brauchten wir auf Rettung nicht mehr zu hoffen.« »Aber wir müssen doch heim nach Bonames!« rief die Mutter erschrocken.
Manchmal saß sie jetzt stundenlang da, brütete vor sich hin und merkte kaum, wenn Kerstin auf ihren Schoß kletterte und mit ihr schmusen wollte. Und Judith lag die meiste Zeit im Bett, bis über den Kopf zugedeckt, und stand nur auf, wenn der Vater sie anbrüllte. Früher hatte er fast nie mit ihr geschimpft.
Am dritten Tag nach der Katastrophe stürzten unser Dachstuhl und ein Teil von Frau Kramers Wohnung zusammen. Aus der Fassade fielen mächtige Brocken von Mörtel und Verputz auf den Bürgersteig.
Die ganze Arbeit hing jetzt am Vater. Dringende Arbeit! Er versuchte, die scheibenlosen Fenster wieder irgendwie zu schließen, denn es wehte und regnete in die Räume. Er schnitt durchsichtige Plastikfolien zurecht, die er in Großvaters Werkstatt gefunden hatte, und nagelte sie in die Rahmen. Ich half ihm dabei. Als wir nach einem Schauer merkten, daß es durch die Decke des Schlafzimmers regnete, machten wir sie zusammen dicht, so gut es ging. Wir hatten Glück, daß der Großvater eine so gut ausgerüstete Werkstatt besessen hatte. Aber bald mußten wir sie jeden Abend verschließen, denn jemand hatte uns eine volle Packung Nägel daraus gestohlen - Nägel! Sie waren unersetzbar.
Jeden Tag schleppte der Vater ein paar Eimer Wasser von der Schewe herauf.
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