Die letzten Kinder von Schewenborn
Die war nicht trübe von Asche wie die Fulda. Sie kommt ja aus dem Vogelsberg herunter und mündet erst ein paar Kilometer hinter Schewenborn in die Fulda. Sie hatte den verbrannten Fuldaer Raum nicht einmal gestreift. Anfangs wehrte sich die Mutter gegen dieses Flußwasser. Sie fürchtete, es könne verseucht sein. Sie schickte den Vater auf die Suche nach einer Quelle oder einem Brunnen. Er fragte Einheimische aus. Rings in den Wäldern gab es mehrere Quellen. Aber um sie zu erreichen, mußte man weit wandern. Und Brunnen? Die gab es in Schewenborn längst nicht mehr außer dem Brunnen im Burghof. Der war trocken.
»Wenn diese Gegend radioaktiv verseucht ist«, sagte der Vater, »dann ist es nicht nur das Wasser. Wir dürften weder diese Luft atmen noch diese Erde berühren. Aber wir haben es schon getan. Um ganz sicher vor der Verseuchung zu sein, hätten wir nicht hier sein dürfen. Entweder ist hier nichts passiert, dann können wir alles berühren, essen und trinken. Oder es ist hier längst alles verseucht, dann können wir auch in aller Ruhe berühren, essen und trinken, was uns umgibt. Denn dann ist es für eine Rettung längst zu spät.«
» Mußt du denn so pessimistisch daherreden?« fragte die Mutter gereizt und kochte das Wasser für die Küche trotzdem ab.
»Mit dem Abkochen«, sagte der Vater, »schützt du uns höchstens gegen Typhus, auf den Schewenborn sicher nicht mehr lange zu warten braucht. Der ist fällig.«
»Hör auf, hör auf«, rief die Mutter. »Du machst einen richtig mutlos. Hast du nicht selber gesagt, daß wir noch eine Chance haben zu überleben?«
Im Schuppen neben der Werkstatt stand noch ein alter Kohleherd. Meine Großmutter hatte sich nie entschließen können, ihn zum Sperrmüll zu tun oder zu verkaufen. Den schleppten wir jetzt in die Küche und wechselten ihn gegen den Elektroherd aus. Die Mutter lernte wieder, mit Feuer umzugehen. Wir zersägten die verkohlten Balken des Dachstuhls und brachten sie ihr als Brennholz in die Küche.
Mit dem Wasser mußten wir sehr sparsam umgehen. An ein Wannenbad war nicht mehr zu denken. Abends kippte der Vater einen halben Eimer über mich, die andere Hälfte kippte ich über ihn. Die Mutter und Judith wuschen sich aus der Schüssel. Danach setzten sie Kerstin hinein, und hinterher putzte die Mutter mit demselben Wasser noch die Fliesen in der Küche. Früher hätten wir über so eine Katzenwäsche die Nase gerümpft.
Allmählich wich das Dämmerlicht. Die Sonne schien wieder. Es folgten heiße, wunderbare Badetage! Mit Sehnsucht dachten wir an den vergangenen Sommer zurück. Fast jeden Tag waren wir im Schwimmbad gewesen. Jetzt war es geschlossen. Ich bat darum, in der Schewe baden zu dürfen.
»Willst du etwa im Trink- und Kochwasser der Schewenborner herumschwimmen?« fragte der Vater daraufhin.
»Und überhaupt«, fügte die Mutter hinzu, »brächtest du es denn fertig, dich im Wasser zu amüsieren neben soviel Elend?«
Damit hatte sie recht.
Auch die Wasserspülung funktionierte nicht mehr. Die Mutter stellte einen Eimer in die Garage, die jetzt niemand mehr brauchte. Den Eimer leerten wir über dem Komposthaufen hinter der Werkstatt Dort häuften sich die Abfälle. Der Müll wurde ja nicht mehr abgeholt. Unser Haufen fing bald an zu stinken, und Frau Kramer regte sich darüber auf. Aber wie sollten wir uns anders helfen?
Wenn mich der Vater nicht gerade brauchte, saß ich heimlich am Fenster hinter dem Vorhang und spähte hinaus. Ich sah die Scharen der Obdachlosen vorüberziehen und um Wasser und Essen betteln: halbnackte, elende, verzweifelte Menschen. Ich flüchtete nicht mehr in die Küche.
Einmal überraschte mich die Mutter dabei. Ich erwartete ein Donnerwetter, aber sie schimpfte nicht. Sie strich mir über den Kopf und begann zu weinen. Da weinte ich auch. Sie legte ihren Arm um meine Schulter und führte mich weg vom Fenster.
»Laß dich nicht sehen«, sagte sie, »sonst lockst du sie an. Die paar Vorräte, die wir noch haben, müssen wir für uns selber aufheben.«
Als sie das gesagt hatte, konnte ich plötzlich aufhören zu heulen.
»Und wenn ich da draußen vorüberginge?« fragte ich. »Oder Kerstin?«
»Ich bin fies, ich weiß«, sagte sie. »Aber soll ich etwa andere retten - auf eure Kosten?«
Nach vier Tagen hielt ich es nicht mehr aus, im Haus zu bleiben. Ich wollte alles, was der Vater uns geschildert hatte, mit eigenen Augen sehen! Ich bat, ich bettelte. Die Mutter wollte es nicht erlauben, aber
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