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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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bald nicht mehr so gut gehen würde. Ich entwickelte eine
krankhaft zu nennende Verlustangst, aus der diverse kleine Zwangsstörungen
resultierten, man nennt es auch Ticks. Zum Beispiel, dreimal oder öfter
nachsehen zu müssen, ob auch wirklich alle Herdplatten ausgeschaltet sind,
etcetera, diese Kleinigkeiten. Und Großigkeiten, nämlich in alltägliche
Wahrnehmungen viel hineinzuinterpretieren, als handele sich um Omen, um
Zeichen. Meine Fantasie war immer schon stark ausgeprägt, und von einem
gewissen Punkt an wendete sie sich gegen mich, ließ die Realität zu einem
Alptraum werden aus diabolischen, sadistischen Möglichkeiten, die hinter oder
neben einer ganz harmlosen Ausgangslage lauerten. Mein IQ beträgt laut Messung 144, ich war durchaus fähig, über jene Aussetzer, wie
ich sie mal nennen will, zu reflektieren und sie in gewisser Weise zu bändigen
oder immerhin stillzustellen, wenn ich mich konzentrierte. Ich war nicht sehr
beliebt, galt unter meinen Kollegen als schwierig, behielt aber in
entscheidenden Situationen die Kontrolle. Meine Mitmenschen bedeuteten mir
recht wenig, ich konnte sie wahrnehmen, genauso gut aber ausblenden. Ich lebte
in einer ganz auf mich und meine Marotten zugeschnittenen Welt, und was ich
tat, wie gut ich es auch immer tat, hinterließ ein schales Gefühl in mir, ein
nagendes Gefühl der Unbefriedigung.
    Wirklich verliebt war ich nie
als Twen. Hier und da zollte ich sozialen Erwartungen Tribut, verwechselte
Geilheit oder Freundschaft mit Liebe und ließ mich auf Beziehungen ein, die
wenig inspirierend waren, fruchtlos im Sand versickerten, aus denen alle
Beteiligten nur mit Schmerzen entkamen. Ich habe meine Andersartigkeit
umzudeuten gelernt, nach dem Prinzip, ich wäre ganz in Ordnung, wenn man mich
nur nähme, wie ich bin. Man braucht, dachte ich, die passende seelische
Bekleidung, um mit mir Umgang zu haben.
    Eigentlich war ich eine Art
Autist, der über seine Aberrationen zwar Bescheid wußte, doch keinen triftigen
Grund besaß, diese zu regulieren. Weil es egal war. Ich will es mal dramatisch
ausdrücken: Es gab keinen Grund zu leben – und keinen zu sterben. Dahinzuvegetieren,
auf hohem Niveau, war mein Schicksal, was ein viel zu großes Wort ist.
Heutzutage noch das Wort Schicksal zu benutzen, ist definitiv zu hoch
gegriffen. Ich machte, wofür man mich bezahlte, passabel, mehr als das, aber –
wie soll ich sagen – immer blieb der Hintergedanke, daß es Betrug sein könnte
und irgendwann auffliegen würde. Daß ich ein Scharlatan wäre, der nur keine
Lust auf echte Arbeit hatte, ein Hochstapler, desssen Tage gezählt sind.
Immerhin schien es anderen ähnlich zu gehen. Ich erlebte um mich herum so viel
Mittelmaß und Unfähigkeit. Somit auch wieder Trost und Beschwichtigung.
Irgendwie würde dieses Leben schon abzusitzen sein.
    Wie ich meine Kindheit
beschreiben würde? Sie meinen die Zeit von eins bis zwölf? Die war von Anfang
an behütet. Das war das Problem. Wenn man von Anfang an in der Scheiße
aufwächst, ist es viel besser, man ist die Scheiße gewohnt und entwickelt eine
Hornhaut auf der Seele. Nein, ich wiederhole, behütet. Dabei war ich ein
sonderbares Kind, aber Kinder, alle Kinder, sind sonderbar, da fiel ich nicht
sehr auf. Die Geisteskrankheit von Kindern ist etwas drollig-natürliches. Sie
halten Dinge für wirklich, die es nur in ihrer Vorstellung gibt, und sie haben
noch kein Verhältnis zum Tod, weshalb sie Lebloses lebendig machen, beseelen
können. Kleine Götter, denen das Leben zum kreativen Spiel gerät. Meine
früheste Erinnerung ist die: Ich bin vier Jahre alt und halte einen runden
braunen Stein mit schwarzen Flecken in der Hand, der einer Kartoffel ähnlich
sieht. Dies, beschließe ich, wird die Notration für unsre Familie sein, wenn
sonst gar nichts mehr zu essen da ist. Und wohl ein Jahr lang schleppe ich den
Stein mit mir herum, fühle mich wichtig. Bis mir mein Großvater, dem ich damit,
warum auch immer, auf die Nerven gehe, erklärt, daß ein Stein ein Stein sei und
sonst nichts. Außerdem hätten wir genug zu essen, was sollten die Nachbarn
denken? Und das Ding an sich war fortan ein Stein, mehr nicht, keine
Geheimkartoffel, von der man, ohne das unnütze Wissen des Großvaters, unendlich
oft hätte abbeißen können. Und ich schäme mich fortan meiner Kindlichkeit, will
ein zwergwüchsiger Erwachsener sein, ich bin bestimmt vielen Menschen auf die
Nerven gegangen. Kinder sind Egomanen. Charakterlose Kreaturen, die man nur

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