Die letzten schönen Tage
vielleicht manches anders gekommen.
Lisbeth war Lehrerin für
Biologie und Chemie gewesen, dementsprechend neigte sie dazu, das Leben als langen Verdauungs- und Verwesungsprozeß zu betrachten, dem man entgegentreten
muß, um vor sich selbst Würde zu bewahren. Es ging nicht darum, den Kampf gegen
den Tod zu gewinnen, das würde frühestens in etlichen Jahrzehnten ein Thema
werden. Aber dem Leben einen gewissen Mehrwert abzuluchsen, nicht einfach
lethargisch unterzugehen, schien ihr die einzige sinn- und stilvolle Haltung
dem eigenen Körper gegenüber. Sofern man gerne lebt, jeden Tag als Geschenk und
potenzielles Fest begreift.
Jules Fächer waren Erdkunde
und Geschichte gewesen, von daher sah sie die Welt immer ein wenig von oben
herab, als lange Folge gescheiterter Utopien, zerfallender Reiche und
hingemordeter Individuen. Ohne daß es ihr bewußt war, ohne daß sie es
ausdrücklich und bei jeder Gelegenheit propagiert hätte, trug sie den Gedanken
von der Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens wie einen Leitstern vor sich
her. (Oder wie der Esel die Möhre! Hätte Lisbeth spitz dazwischengezischelt.)
Daß sich so unterschiedliche Naturen wie Jule und Lisbeth gut vertrugen, lag
daran, daß sie selten Grundsatzdebatten führten, einander einfach akzeptierten,
wie sie waren. Beide wußten, daß man jung – und dominant – sein muß, wenn man
sich jemanden noch zurechtschnitzen will. Jule erblickte in Lisbeth sogar eine
erfrischende Ergänzung zu sich selbst, eine willkommene zweite Meinung, eine
inspirierende Provokation.
Lisbeth sah das umgekehrt
nicht so. Ganz und gar nicht. Jule war für sie, bei aller Wertschätzung und
Liebe, eine recht fade Person, die nie viel sagte, aus Angst, Widerspruch zu
ernten, die kaum Ideen vortrug, noch Leidenschaft entwickelte, in keinerlei
Hinsicht, die sich mit einem Leben als Schatten zufriedengab und beim Frühstück
die Mettwurst auf ihrem Brötchen unter sorgfältig drapierten Gurkenscheiben zu
verstecken suchte. Halt! Eine Leidenschaft besaß Jule ja doch, das war jene,
ständig darüber nachzudenken, welches Gefahrenpotenzial ihr (oder ihrem
anstrengenden Kater) drohte, ob von Thrombosen, Einwanderungsbehörden, Alligatoren
oder Haien. Nur die konkreteste Gefahr, nämlich die Mettwurst auf ihrem
Brötchen, ignorierte sie geflissentlich. Lisbeth hatte sich längst damit
abgefunden, sie wußte, daß Jule sich nicht mehr ändern würde. Lisbeth neigte
manchmal zu einer gewissen Zickigkeit, mit der sie im Leben schon einige
Freunde verprellt hatte. Sie war aus Schaden klug geworden und zwang sich
seither dazu, Kritik nicht mehr akustisch zu äußern, allenfalls mimisch und
gestisch. So konnte man sich immer noch auf ein Mißverständnis, eine
Fehlinterpretation herausreden für den allzu häufigen Fall, daß der Zorn sich
schnell verflüchtigte, weil der Anlaß gar zu gering war.
Heute war einiges anders
als sonst. Die Frauen saßen nun schon über eine Woche Tag und Nacht beisammen,
länger als jemals zuvor – und die an Körperfett so arme Lisbeth hatten zwei
Gläser Wein bereits betrunken gemacht.
Krieg das jetzt nicht in
den falschen Hals. Aber du gehst mir grad auf den Zeiger. Tierisch.
Ich hab doch gar nichts
gesagt.
Ja eben. Ich mag nicht in der
Öffentlichkeit kuscheln, das weißt du. Stattdessen hängst du dich ständig an
meinen Hals, wie ein Kind. Statt mal ein vernünftiges Gespräch zu führen.
Wir sind hier in einer Bar …
Wollte Jule sich verteidigen, aber der Schock saß zu tief, und sie schwieg,
wodurch Lisbeth noch mehr in Rage geriet.
Wenn von dir mal was
Originelles kommt, dann sind es Scheiß-Thrombosestrümpfe, und wenn du mal was
sagst, dann über Google-Statistiken von Hai-Attacken und Propellerbootunfällen
und über die Formkrise deines kastrierten uralten Katzenviehs.
Das war nun mehr als
ungerecht, denn seit Tagen hatte Jule dieses Thema bewußt ausgeklammert.
Langsam begriff sie, daß Lisbeth betrunken war und etwas loswerden wollte, was
sich nicht in Stunden, sondern in Jahren in ihr aufgestaut hatte.
Ich nehm mir jetzt noch
ein Glas und geh an den Strand, Julchen, und ich möchte da allein sein, auf die
Gefahr hin, daß mich jemand vergewaltigt oder ein Meermonster mich ins Wasser
zieht. Verstanden? Und du gehst aufs Zimmer, damit dir nichts passiert, und
wenn ich später zu dir stoße, möchte ich mich nicht dauernd von deinen Armen
freikämpfen müssen. Und am Morgen, bitte, solltest du dir die Zähne putzen, du
hast
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