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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Scharfschützen umsehen
müssen. Die leider nie da sind, um das Gesockse abzuknallen. Manche Menschen sind
nur auf der Welt, um anderen auf den Sack zu gehen. Lebende, doch letztlich
leblose Hindernisse und Schikanen. Sie stehen auf den Rolltreppen links, sind
mit großen Rucksäcken in der Buchhandlung unterwegs oder mit Kinderwagen auf
Floh- und Obstmärkten. Und haben wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung
davon, daß man ihnen mehrmals am Tag die Ausrottung wünscht. Eben in der
Videothek stand einer vor der Kiste mit gebrauchten DVD s und beugte sich drüber. Fast zehn Minuten brauchte
der, um die Kiste zu durchsuchen, und stand so massiv davor, daß ich nicht
einmal von der Seite mitgucken konnte. Oder gestern beim Chinesen, wo es
Zweier- und Vierertische gibt. Wie viele Paare flätzten sich da einfach fett an
Vierertischen, und selbst wo es fast voll war, nur noch ein Zweiertisch frei –
keines der Pärchen kam auf die Idee, an diesen Zweiertisch zu wechseln, wo sie
doch sahen, wie eine Gruppe von vier Personen murrend darauf wartete, daß was
frei wurde. Da wünscht man sich dann schon mal den Flammenwerfer in die Hand
und laxere Gesetze. Eklig vor allem die Twen-Typen mit Fünftagebart und Schal,
mit ihrer schmierigen Lache, ihren teuren, asymmetrischen Post-Oasis-Frisuren,
darunter Koteletten, vielleicht sogar ein Ziegenbärtchen und inmitten von
alldem nichts in der Birne. Ihre Mädchen sind oft ganz hübsch. Was mich noch
mehr zur Verzweiflung treibt.
    Seit gestern versinkt Berlin
im Schnee. Manche mögen das idyllisch finden, spanische und italienische
Touristen zum Beispiel, schnell frierende Menschen, sonnenverzärtelt, die sich
gegen die Kälte mit grotesken Verkleidungen rüsten. Vor gut einer halben Stunde
wartete ich auf die letzte U-Bahn, die um ein Uhr nachts vom Adenauerplatz
Richtung Neukölln fährt. Ich war noch lange im Büro, hatte über mein neues
Projekt nachgedacht, ohne eine Lösung zu finden. Ich stand an der
Bahnsteigkante; in drei Minuten, so verhieß es mir die Leuchtschriftanzeige,
würde der Zug kommen. Es warteten noch andere Personen neben mir, und ich hatte
nichts zu lesen dabei, sah auf die Gleise hinunter, wo man oft Mäuse beobachten
kann. Manchmal denke ich darüber nach, wie es wäre, mich einfach vor die
einfahrende Bahn zu werfen. Das hat nichts zu bedeuten, ich bin als Selbstmörder
ein Möchtegern und Schaffesnicht, aber mir die direkten Konsequenzen auszumalen
macht Spaß. Wer auf meine Beerdigung käme, wer welche Reden halten würde, wer
sich mit wem um mein bißchen Erbe stritte, falls mein Testament verloren ginge,
etcetera. Dann sah ich, leuchtend kupferfarben, einen Cent zwischen den
Schienen liegen. Ein frisch geprägter Cent – und binnen einer Sekunde wußte
ich, daß dies mein Glückscent war. Welch blöde Idee – aber stark, sie hielt
mich fest und redete auf mich ein. Schnapp dir diesen Glückscent, dann wird
dein gesamtes künftiges Leben problemfrei verlaufen. Ich sah auf die
Leuchtschrift. Noch zwei Minuten. Ich konnte schnell aufs Gleis springen, den
Glückscent an mich nehmen und wieder auf den Bahnsteig, ohne Gefahr. Aber da
waren die Leute. Was würden die Leute von mir denken? Was gingen diese Leute
mich an? Etwas in mir sagte: Spring, hol dir das Glück, und alles wird gut. Aber
ich zögerte, wollte mich vor den Leuten nicht rechtfertigen müssen, obwohl
denen das wahrscheinlich ganz egal gewesen wäre. Sie hätten mich schräg
angeglotzt, na gut, vielleicht wäre irgendein Kommentar gekommen, eher aber
nicht. Dann gewann eine andere Stimme in mir die Oberhand. Das ist nur ein
blödes Geldstück von geringem Wert, du spinnst, deswegen dein Leben aufs Spiel
zu setzen. Und die erste Stimme: So ein Quatsch, du hast noch zwei Minuten, das
ist eine kleine Ewigkeit, und du würdest die einfahrende Bahn ja hören, wenn
sie wirklich früher käme, spring! Das waren keine Stimmen, wie Verrückte sie
hören, natürlich nicht, es waren stumme Stimmen, zwei Fraktionen meines Innen,
die stritten, und die Leuchtschrift wechselte von der Zwei auf die Eins. Jetzt
wäre es schon wirklich gefährlich, die Münze an mich zu nehmen. Aber – ich
konnte ja einfach warten, bis die Bahn eingefahren war, die Leute, die mich
störten, eingestiegen waren und abtransportiert. Und dann – könnte ich ganz
gefahrlos und unbeobachtet den Cent einstecken und mir ein Taxi nach Hause
nehmen. Die andere Stimme sagte: Bist du komplett durchgeknallt? Diese U-Bahn
bringt dich

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