Die letzten Tage
fratello aufgefunden hatte. Sprach das nicht im Grunde für ihn?
Ist es nicht vielmehr so, dass du unbedingt an seine Unschuld glauben willst ?
Sie atmete tief durch und sagte: „Natürlich vertraue ich dir.“
„Gut. Dann komm.“
„Das ist ein ziemlich vager Plan“, gab Zack stirnrunzelnd zu bedenken.
Sie saßen im obersten Stockwerk einer verlassenen alten Lagerhalle, irgendwo am Ufer des Tibers. Es sah nicht so aus, als seien sie die Ersten, die hier hausten. Zwischen halb verfallenen Maschinen entdeckte Grazia ein Bett mit einer fleckigen Matratze, zwei verschlissene Sessel und andere bunt zusammengewürfelte Einrichtungsgegenstände, von denen die meisten vom Sperrmüll zu stammen schienen.
Nach ihrem Eintreffen vor etwas mehr als zwei Stunden hatte Zack ihr, wie versprochen, alles erklärt. Er war einer seiner Visionen gefolgt, die ihn in die Nähe von San Carlino führte, wo er sogleich eine starke dämonische Aktivität wahrgenommen hatte.Doch als er die Kirche schließlich erreichte, war es bereits zu spät gewesen. Er hatte nur noch den Tod des bedauernswerten fratello feststellen können.
Grazia glaubte ihm. Sie wusste nur nicht, ob es nicht einfach nur daran lag, dass sie es unbedingt wollte.
Dir ist schon klar, dass er diese ganze Geschichte bloß erfunden haben könnte?
Sie wischte den unbequemen Gedanken beiseite und schaute sich stattdessen neugierig um. „Was ist das hier eigentlich?“
„Mein augenblickliches Zuhause – gemütlich, nicht wahr? Es handelt sich um eine ehemalige Druckerei. Hier wurden früher Bibeln hergestellt – ist das nicht eine echte Ironie des Schicksals?“ Er schüttelte den Kopf. „Aber jetzt lenk bitte nicht ab. Wie kommst du darauf, das wir ausgerechnet über diesen Typen … Wie heißt er noch?“
„Giancarlo di Barini.“
„Genau – du meinst, dass wir über ihn Kontakt mit der Bruderschaft aufnehmen können?“
Grazia wand sich innerlich. Bisher hatte sie es stets vermieden, mit Zack über ihren Vater zu sprechen. Aber vermutlich wurde es jetzt langsam Zeit, dies nachzuholen.
„Er ist die beste Chance, die wir haben.“ Seufzend wickelte sie sich eine Haarsträhne um den Finger. „Umberto Bassani glaubte, dass die fünf höchsten Ränge der Bruderschaft – der maresciallo und die vier maggiordomi – jeweils vom Vater an den ältesten Sohn beziehungsweise an den nächsten infrage kommenden männlichen Blutsverwandten weitervererbt werden. Und er war davon überzeugt, dass die Familie di Barini, eine der angesehensten Familien Roms, eine dieser Positionen innehat.“
„Umberto Bassani? Wer soll das sein? Ein Verwandter von dir?“
„Könnte man so sagen“, entgegnete Grazia. „Er ist mein Vater.“
„Dein Vater?“ Zack, der die ganze Zeit über unruhig auf und ab gelaufen war, blieb plötzlich stehen. „Was hat dein Vater mit den fratelli zu tun?“
Ein bitteres Lachen entrang sich Grazias Kehle. „Was er mit ihnen zu tun hat? Man könnte sagen, er ist geradezu besessen von ihnen!“
Sie hatte den Gedanken an ihren Vater in den vergangenen Jahren nicht oft zugelassen. Ganz egal, wie viel Zeit verstrich – der Schmerz schien niemals wirklich zu verblassen. Die meiste Zeit über schaffte sie es, nicht an ihre Vergangenheit oder die verkorkste Beziehung zu ihrem Vater zu denken. Doch auch sie konnte den Schein nicht immer aufrechterhalten, und so geriet die Fassade der toughen Polizistin auch manchmal ins Wanken, und darunter kam eine tiefe, trostlose Melancholie zum Vorschein, die …
Nein, jetzt nicht! Das ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um rührseligen Erinnerungen nachzuhängen.
Sie räusperte sich. „Mein Vater ist Altertumsforscher, doch sein besonderes Steckenpferd ist, solange ich zurückdenken kann, die Geschichte der Bruderschaft der letzten Tage gewesen.“
Seltsam, nachdem sie einmal angefangen hatte zu sprechen, fiel es ihr plötzlich gar nicht mehr so schwer. Ganz im Gegenteil sogar – es fühlte sich gut an, sich die ganze Last endlich einmal von der Seele reden zu können. Das lag vielleicht aber auch ein bisschen an Zack, der die ganze Zeit über schweigend ihre Hand hielt.
„Im Laufe der Jahre wurde es immer schlimmer“, fuhr sie fort. „Ich glaube, es fing eigentlich erst so richtig mit dem Tod meiner Mutter an. Sie hat uns im Stich gelassen und kam kurz darauf bei einem Unfall ums Leben. Danach verlor mein Vater immer mehr den Bezug zur Realität. Er hat sich am Ende überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher