Die letzten Tage
der di Barinis inmitten einer ausgedehnten Parklandschaft befand – Grazia kam es vor wie die längste halbe Stunde ihres Lebens. Ihre Finger krallten sich so fest in den Stoff seiner schwarzen Lederjacke, dass sie fast steif waren, als Zack und sie schließlich ihr Ziel erreichten. Endlich konnte sie von ihrem Platz hinter Zack herunterrutschen.
Ihm schien die wilde Fahrt im Gegensatz zu ihr geradezu Spaß gemacht zu haben. Jedenfalls grinste er beinahe jungenhaft. Mit den Händen strich er sich durch das vom Wind zerzauste Haar. „So, da wären wir“, sagte er. „Und was nun?“
„Da rüber.“ Grazia deutete auf die hohe Mauer, die, wie sie von früher wusste, das gesamte Anwesen umgab. Sie war nämlich nicht zum ersten Mal hier. Ihr Vater hatte sie, als sie gerade mal zehn oder elf gewesen war, oft mit hierher genommen. Gern erinnerte sie sich an diese Ausflüge jedoch nicht zurück, da ihr Vater immer wieder versucht hatte, auf das Gelände einzudringen, wobei er regelmäßig von der Security erwischt worden war. Schließlich hatte die Familie di Barini eine gerichtliche Verfügung gegen ihn erwirkt, die es ihm untersagte, sich dem Grundstück auf mehr als fünfhundert Meter zu nähern.
Wie Grazia feststellen musste, waren aber noch weitere Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. So war der obere Teil der Mauer mit scharfen Metalldornen versehen, die ein Überklettern praktisch unmöglich machten.
Praktisch – aber nicht vollkommen, wie Zack eindrucksvoll bewies. Er brauchte keine zehn Sekunden, um auf die Mauer zu gelangen. Mit seiner Hilfe gelang es auch Grazia relativ mühelos das Hindernis zu überwinden, wobei ihre Landung allerdings weit weniger elegant ausfiel als seine. Zum Glück dämpfte der federnde Grasboden ihren Sturz zumindest etwas ab, trotzdem fühlte sie sich wie zusammengestaucht, als sie auf der anderen Seite der Mauer aufkam.
Zack half ihr auf, und sie blickte sich um.
Im matten Zwielicht der Abenddämmerung sah die Villa di Barini für einen Augenblick aus wie eine Klauenhand, die in den Himmel ragte. Doch das war natürlich nur Einbildung, denn die Familie, die mit Grundstücksspekulationen ein Vermögen gemacht hatte, bewohnte eines der schönsten Häuser ganz Italiens.
Im Grunde glich es mehr einem kleinen Schloss als einem normalen Haus. Das zweigeschossige Hauptgebäude wurde von zwei mächtigen Türmen eingefasst, deren Kuppeldächer im Abendrot schimmerten. Über der wuchtigen Eingangspforte und rund um die bodentiefen Rundbogenfenster zierten kunstvolle Stuckarbeiten die Fassade, die bis etwa zur Hälfte des unteren Stockwerks mit Kletterrosen bewachsen war. Umgeben war das Haus von einem Garten, dessen Ausmaße die meisten städtischen Parks von Rom übertraf, mit gepflegten Blumenrabatten, kleinen Zierbrunnen und einem Teich, auf dessen grünschwarz schimmernder Oberfläche Seerosen schwammen.
Die Sonne war bereits untergegangen, als Zack von seiner Erkundungstour zurückkehrte, zu der er lieber allein aufgebrochen war. „Die Luft ist rein“, sagte er. „Aber denk daran, wir beobachten vorerst nur. Wenn du also jemanden siehst, versteck dich, okay?“
Sie schlichen im Schutz der Dunkelheit zum Haus hinüber. Je näher sie kamen, umso eindrucksvoller erschien Grazia das Gebäude. Doch irgendetwas störte sie. Nur was?
Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es die Fenster waren, die sie irritierten. Das auf Hochglanz polierte Glas reflektierte den silbrigen Schein des Mondes – doch hinter keinem von ihnen brannte Licht.
„Scheint keiner zu Hause zu sein, ich …“ Die Worte blieben ihr im Halse stecken, als plötzlich ein Schrei die Stille der Nacht zerriss, so verzweifelt und schrill wie die Seele eines Sünders im Fegefeuer. Sie schluckte hart. „Zack, was …?“
Im Mondlicht wirkte Zacks Gesicht wie eine in Marmor gemeißelte Büste. Eine steile Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, ansonsten ließ seine Miene keinerlei Rückschluss auf seine Gemütslage zu. „Wir kommen zu spät“, erklärte er finster. „Siesind bereits da.“
Grazia brauchte nicht zu fragen, von wem Zack sprach. Sie erschauderte, als sie an das Monster dachte, von dem sie in ihrer Wohnung angegriffen worden war. Welches neue Grauen würde sie hier wohl erwarten?
„Du rührst dich nicht von der Stelle, verstanden?“, rief Zack und rannte los.
Er machte sich gar nicht erst die Mühe, auszuprobieren, ob die gläserne Terrassentür vielleicht unverschlossen war
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