Die letzten Tage von Hongkong
eine solche Bibliothek gehabt hätte? So viele Bücher, alle geordnet auf wunderschönen Eichenregalen. Bücher, die ich einfach herunternehmen könnte, wenn ich wollte. Und dazu den nötigen Raum, um sie wirklich genießen zu können. Und natürlich die Bildung. Sie lesen wenyenwen – klassisches Chinesisch. Ich nicht. Ist das nicht absurd?«
Cuthbert öffnete einen Knopf seines Hemds, zog seine Jacke aus und warf sie aufs Sofa. Er hatte bereits sein zweites Glas Brandy hinter sich, sah aber kein bißchen betrunken aus. Chan trank ebenfalls.
Cuthbert schenkte ihnen beiden nach. »Sie beneiden mich, und ich beneide Sie.«
»Sie machen sich über mich lustig.«
»Überhaupt nicht. Ich beneide Sie um all die Dinge, über die Sie gar nicht nachdenken müssen. Es muß wunderbar sein, einen geistig beschränkten Mörder aufzuspüren, die Beweise fürs Gericht vorzubereiten, ihn einzulochen. Sie haben eine neunzigprozentige Erfolgsquote. Die meisten Leute sind der Meinung, daß Sie in Ihrem Beruf brillant sind. Ich persönlich meine, daß Sie Ihre Begabung nicht voll nutzen.«
Chan sah den Engländer an, der am Fenster stand. »Wissen Sie, was das merkwürdigste an Ihrer Kultur ist? Diese morbide Sucht nach Schuld. Meine Exfrau ist Engländerin. Natürlich hat sie selbst sich nie schuldig gefühlt, aber sie hat immer dafür gesorgt, daß es anderen so ging. Ihr Engländer habt wirklich eine Begabung, bei anderen Schuldgefühle hervorzurufen. Wenn ich Ihnen so zuhöre, könnte ich glatt ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich so viele Verbrechen aufkläre.«
Cuthbert lächelte schmallippig. »Ich habe Ihnen nur erklärt, warum Sie mich nicht beneiden sollten. In Ihrem Beruf haben Sie lösbare Probleme, wie in einem Kreuzworträtsel. Zum Beispiel die Fleischwolfmorde. Ihre Aufgabe bestand lediglich darin, die Opfer und die Täter zu identifizieren.«
»Und die Ihre?«
Der Diplomat machte Anstalten, etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber doch anders. Schließlich sprach er weiter: »Sie bringen den Fall zum Abschluß, und worum ging’s in dem Fall überhaupt? Antwort: Der General und seine Freunde, die diese Kolonie in zwei Monaten übernehmen werden, sind Kriminelle, die sich eine goldene Nase am Export von Heroin und Waffen verdient haben und jetzt dabei sind, Uran für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu sammeln.«
»Tja, die Wahrheit kann weh tun, aber sie ist immer noch die Wahrheit.«
»Dann gehen Sie damit eben an die Öffentlichkeit. Sechs Millionen Menschen in Hongkong, die sich das Beste erhofft hatten, wissen jetzt, daß sie das Schlimmste zu erwarten haben. Die Hälfte, die die Möglichkeit dazu hat, in andere Länder zu verschwinden, überschwemmt die Straßen zum Flughafen. Die anderen drei Millionen werden revoltieren. Es wird klar werden, daß Großbritannien die Situation nicht mehr im Griff hat. Also wird die Volksbefreiungsarmee ein bißchen früher kommen, um den Frieden zu erhalten. Verstehen Sie denn nicht? Xian kann jetzt nicht mehr verlieren. Er hält alle Trümpfe in der Hand. Es hat nie einen Fall gegeben, den man hätte lösen müssen. Es ist ein Machtspiel, das wir nicht gewinnen können.«
Obwohl Chan spürte, wie ernst Cuthbert das war, was er gerade gesagt hatte, beschäftigten ihn andere Gedanken.
»Glauben Sie, daß er mich umbringen wird?«
Cuthbert zuckte mit den Achseln. »Das kommt drauf an. Vor zwei Tagen haben Sie ihm bewiesen, daß die 14K und die Sun Yee On ihn zum Narren gehalten und zwei seiner besten Männer zerhäckselt haben. Ich habe die Ermordung von Clare Coletti und ihren Freunden vorgeschlagen, um die Sache geheimzuhalten. Natürlich war ich mir darüber bewußt, daß das nichts nützen würde, aber versuchen mußte ich es. Ich habe heute gehört, daß Xian davon erfahren hat. Ich würde meinen, daß er erst mal keine Zeit hat, sich mit Ihnen zu beschäftigen.«
»Hassen Sie Xian?«
Cuthbert schenkte sich kopfschüttelnd noch einen Brandy ein.
»Das würde ich gern, aber es ist schwierig, eine Urgewalt zu hassen. Xian zu hassen würde bedeuten, Taifune oder Vulkane zu hassen. Er ist eine feste Größe unseres Lebens. Und zwar eine Größe, über die die westlichen Demokratien lieber nicht nachdenken sollten. Ihr Erwachen aus dem tiefen Schlaf des Liberalismus wird interessant werden.«
»Ich verstehe nicht.«
Cuthbert reichte ihm ein Glas. Chan zündete sich eine Benson an. »O doch, das glaube ich schon. Ihnen muß doch aufgefallen
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