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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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wissen? Und wie viel Zeit mochte ihnen zur Verfügung stehen, das herauszufinden? Immer mit der Ruhe, sagte er sich; zuerst die Ziege anbinden. Seine Gedanken kehrten zu Kurtz zurück, und ein Gefühl schmerzlicher Freude befiel ihn, als er sich ausmalte, wie dessen durchdringende, unerschöpfliche Stimme ihn in schauderhaftem Hebräisch mit Lob überhäufte. Der Gedanke, Kurtz ein so üppiges Opfer zu überbringen, tat Litvak ausgesprochen wohl.
    Salzburg hatte vom Sommer noch nichts gehört. Eine frische Frühlingsluft fegte von den Bergen herunter, und die Salzach roch nach Meer. Wie sie dorthin gekommen waren, war für sie immer noch zur Hälfte ein Rätsel, denn sie hatte unterwegs immer wieder geschlafen. Von Graz waren sie nach Wien geflogen, doch hatte der Flug für sie nur fünf Sekunden gedauert; sie musste also im Flugzeug geschlafen haben. In Wien wartete ein Leihwagen auf ihn, ein flotter BMW. Wieder hatte sie geschlafen, und als sie in die Stadt hineinfuhren, glaubte sie für einen Augenblick, der Wagen müsse brennen, doch war es nur die Abendsonne, die sich im roten Lack brach, als sie die Augen aufmachte.
    »Wieso denn überhaupt Salzburg?« hatte sie ihn gefragt. Weil es eine von Michels Städten sei, hatte er erwidert. Und weil es auf dem Weg liegt.
    »Auf dem Weg wohin?« fragte sie, wieder einmal betroffen von seiner Zurückhaltung.
    Ihr Hotel hatte einen überdachten Innenhof mit alten, vergoldeten Geländern und Topfpflanzen in Marmorgefäßen. Ihre Zimmer gingen auf den rasch dahin fließenden braunen Fluss hinaus; dahinter mehr Kuppeln als im Himmel. Jenseits der Kuppeln erhob sich die Burg mit der Seilbahn, deren Kabinen den Berg hinauf- und hinunterglitten.
    »Ich muss unbedingt einen Spaziergang machen«, sagte sie. Sie nahm ein Bad und schlief in der Wanne ein, und er musste an die Tür hämmern, um sie zu wecken. Sie zog sich an, und wieder wusste er, was sie sich ansehen sollte und welche Dinge ihr am meisten gefielen.
    »Es ist unsere letzte Nacht, nicht wahr?« sagte sie, und diesmal versteckte er sich nicht hinter Michel.
    »Ja, es ist unsere letzte Nacht, Charlie; morgen müssen wir noch einen Besuch machen, und dann kehrst du nach London zurück.« Sie umklammerte seinen Arm mit beiden Händen und streifte mit ihm durch die engen Gassen und Plätze, die ineinander übergingen wie Wohnräume. Sie standen vor Mozarts Geburtshaus, und die Touristen erschienen ihr wie das Publikum einer Matinee-Vorstellung: fröhlich und ahnungslos.
    »Ich hab’s gut gemacht, nicht wahr, Jose? Ich habe meine Sache wirklich gut gemacht. Sag’s mir!«
    »Du hast es ganz ausgezeichnet gemacht«, sagte er - doch irgendwie bedeutete ihr seine Zurückhaltung mehr als sein Lob. Die Spielzeug-Kirchen waren schöner als alles, was sie je gesehen hatte; sie hatten prächtige, vergoldete Altäre, wollüstige Engel und Grabmale, in denen die Toten immer noch von Freuden des Diesseits zu träumen schienen. Ein Jude, der sich als Moslem ausgibt, zeigt mir mein christliches Erbe, dachte sie. Doch als sie Näheres von ihm wissen wollte, war das Äußerste, wozu er bereit war, ihr einen auf Hochglanzpapier gedruckten Fremdenführer zu kaufen und die Rechnung in die Brieftasche zu stecken. »Ich fürchte, Michel hat bis jetzt noch nicht die Zeit gefunden, sich aufs Barock zu stürzen«, erklärte er auf seine trockene Art. Und doch spürte sie in ihm die Schatten irgendeiner unerklärten Hemmung.
    »Sollen wir jetzt zurückgehen?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. Lass es doch noch dauern. Es wurde dunkler, die Menge zerstreute sich; aus Toren, wo man es überhaupt nicht erwartet hätte, drang der Gesang von Chorknaben. Sie saßen am Fluss und lauschten auf die tauben alten Glocken, die unverdrossen miteinander um die Wette läuteten. Sie gingen weiter, und plötzlich war sie so schlapp, dass sie seinen Arm um die Hüfte brauchte, bloß um sich aufrecht zu halten.
    »Essen«, befahl sie, als er sie in den Aufzug führte. »Champagner. Musik.«
    Doch als er die Zimmerbedienung angerufen hatte, lag sie schon fest schlafend auf dem Bett, und nichts auf Gottes Erdboden, nicht einmal Joseph, würde sie wecken.
    Sie lag da, wie sie auf Mykonos im Sand gelegen hatte: den linken Arm angewinkelt und das Gesicht in die Armbeuge gedrückt; und Becker saß auf dem Lehnstuhl und wachte über sie. Der erste schwache Schimmer des grauenden Tages drang durch die Vorhänge. Es roch nach frischem Laub und Holz. In der Nacht hatte

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