Die Libelle
beeindruckt, wie nahe sie damit der Wirklichkeit gekommen war. Findest du nicht, dass der Mund an den Mundwinkeln ein ganz klein wenig zu breit ist? fragte sie sich. Ist das mit der Sinnlichkeit nicht um eine Winzigkeit übertrieben? Die Nasenlöcher nicht zu gebläht? Die Taille nicht allzu betont? Sie war versucht aufzustehen, um zu ihm zu gehen und ihn zu beschützen, doch auf der Bühne tut man so was nicht, es sei denn, es steht im Rollenbuch. Und außerdem hätte Joseph das nie zugelassen.
Trotzdem hätte sie ums Haar für eine Sekunde die Fassung verloren. Diese eine Sekunde lang war sie all das, wovon Joseph gesagt hatte, dass sie es sei - Michels Erlöserin und Retterin, seine heilige Johanna, seine Leibsklavin, sein Star. Sie harte als Schauspielerin ihr Bestes für ihn gegeben, hatte in einem erbärmlichen kerzenerleuchteten Motel mit ihm zu Abend gegessen, sein Bett mit ihm geteilt, sich seiner Revolution angeschlossen, sie hatte sein Armband getragen, seinen Wodka getrunken, seinen Körper in Stücke gerissen und sich ihren Körper von ihm in Stücke reißen lassen. Sie hatte seinen Mercedes für ihn gefahren, seine Pistole geküsst und sein erstklassiges russisches TNT für ihn zu den belagerten Freiheitsarmeen geschafft. Sie hatte in Salzburg in einem Hotel an der Salzach den Sieg mit ihm gefeiert. Sie hatte nachts auf der Akropolis mit ihm getanzt und die ganze Welt für sich wieder zum Leben erweckt; und sie war von einem unsinnigen Schuldgefühl erfüllt, jemals an irgendeine andere Liebe gedacht zu haben.
Wie schön er war - genauso schön, wie Joseph es versprochen hatte. Noch schöner sogar. Er hatte jene absolute Attraktivität, die Charlie und ihresgleichen mit wehmütiger Unvermeidlichkeit anerkennen: Er gehörte zu jener Gattung, die Herrschaft ausstrahlen und sich dessen auch bewusst sind. Er war schmächtig, aber vollkommen, hatte gut ausgebildete Schultern und sehr schmale Hüften. Er hatte wulstige Brauen, das Gesicht eines jugendlichen Pans und darüber dicht am Kopf anliegendes, glattes schwarzes Haar. Nichts von dem, was sie unternommen hatten, um ihn zu zähmen, konnte ihr die Leidenschaftlichkeit seines Wesens verbergen oder das Licht der Rebellion in seinen tiefschwarzen Augen auslöschen. Er war so alltäglich - ein kleiner Bauernjunge, der von einem Olivenbaum gefallen war, mit einem Repertoire angelernter Phrasen und einem Elsternauge für hübsches Spielzeug, hübsche Mädchen und hübsche Wagen. Und mit der Empörung des Bauern gegenüber allen, die ihn von seinem Hof vertrieben hatten. Komm in mein Bett, du Kleiner, und lass dir von Mami ein paar von den großen Worten des Lebens beibringen.
Sie stützten ihn unter den Armen, und als er unsicher die Treppenstufen heruntertorkelte, traten seine Gucci-Schuhe immer wieder daneben, was ihm peinlich zu sein schien, denn ein Lächeln zuckte um seine Lippen, und er blickte verschämt auf seine unsicheren Füße. Sie brachten ihn zu ihr, und sie meinte, es nicht ertragen zu können.
Sie wandte sich an Joseph, um ihm das zu sagen, sah, dass er sie eindringlich anstarrte, und hörte, dass er etwas sagte, doch im selben Augenblick begann das Bandgerät sehr laut zu sprechen, und als sie herumfuhr, beugte sich der liebe Marty in seiner Strickjacke über das Gerät und fummelte an den Knöpfen herum, um das Ding leiser zu stellen.
Die Stimme war weich und hatte denselben ausgeprägten Akzent, wie sie ihn von dem Wochenendseminar in Erinnerung hatte. Was er da sagte, waren trotzige Schlagworte, mit unsicherem Eifer vorgetragen.
»Wir sind die Kolonisierten. Wir sprechen für die Alteingesessenen gegen die Siedler!... Wir sprechen für die Stummen, wir füttern die blinden Münder und ermutigen die tauben Ohren!.. Wir, die Tiere mit den geduldigen Hufen, haben endlich die Geduld verloren!... Wir leben nach dem Gesetz, das jeden Tag unter Beschuss geboren wird!... Die ganze Welt hat etwas zu verlieren, nur wir nicht!... Wir werden gegen jeden kämpfen, der sich zum Verwalter unseres Landes aufschwingt!«
Die jungen Leute hatten ihn auf dem Sofa Platz nehmen lassen, auf der anderen Seite des Hufeisens. Er hielt das Gleichgewicht nicht gut. Er war schwer angeschlagen, lehnte sich vor und benutzte die Arme, um sich abzustützen. Seine Hände lagen wie gefesselt übereinander, aber nur von dem goldenen Armband, das sie ihm angelegt hatten, um ihn für die Vorstellung richtig auszustatten. Der bärtige junge Mann stand schmollend hinter
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