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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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zurechtzuflicken.
    Untergebracht waren sie in drei langen Hütten, eine Hütte mit kleinen Schlafkabinen für die Frauen, eine ohne Kabinen für die Männer und eine dritte mit einer so genannten Bibliothek für die Ausbilder - und wenn sie dich in die Bibliothek bitten, sagte eine große Schwedin, die Fatima genannt wurde, dann erwarte bloß nicht, dass du etwa zum Lesen hinbestellt wirst. Zum Wecken morgens ließen sie einen Schwall martialischer Musik über den Lautsprecher ertönen, der nicht abzustellen war; dann folgte der Frühsport auf einer Sandfläche, die mit Linien aus klebrigem Tau, wie gigantische Schleimspuren von Schnecken, überzogen war. Aber Fatima sagte, die anderen Plätze wären noch schlimmer. Sofern man ihrer Darstellung von sich selbst Glauben schenken wollte, war Fatima ein Ausbildungs-Freak. Sie war im Yemen, in Libyen und in Kiew ausgebildet worden. Sie ließ sich wie ein Tennisprofi von einem Lager zum anderen weiterreichen, bis jemand mal eine Entscheidung fällte, was man eigentlich mit ihr vorhatte. Sie hatte einen dreijährigen Sohn namens Knut, der nackt in der Gegend herumlief und so aussah, als ob er einsam sei, doch als Charlie ihn ansprach, weinte er.
    Ihre Wachen waren eine neue Art von Arabern, wie sie sie bis jetzt noch nicht kennen gelernt hatte und auf die sie gut verzichten konnte: wie die Pfauen einherstolzierende, nahezu schweigende Cowboys, die sich ein Vergnügen daraus machten, Europäer und Amerikaner zu demütigen. Sie stellten sich auf den Wällen des Forts in Positur und fuhren zu sechst in halsbrecherischer Geschwindigkeit mit den Jeeps. Fatima sagte, es handele sich um eine Sonder-Einsatztruppe, die an der syrischen Grenze ausgebildet worden sei. Manche waren so jung, dass Charlie sich manchmal fragte, ob sie mit den Füßen überhaupt die Pedale erreichen konnten. Bis Charlie und eine Japanerin regelrecht Krach schlugen, brachen dieselben halbwüchsigen Jungen zu zweit oder zu dritt nachts bei ihnen ein und versuchten, die Mädchen zu bewegen, mit ihnen in die Wüste hinauszufahren. Fatima ging für gewöhnlich mit, wie auch eine Ostdeutsche, und wenn sie wiederkamen, sahen sie tief beeindruckt aus. Aber die anderen Mädchen hielten sich, falls ihnen überhaupt etwas daran lag, lieber an die westlichen Ausbilder, was die Araber selbstverständlich noch mehr aufbrachte.
    Sämtliche Ausbilder waren Männer. Zum Frühgebet stellten sie sich vor ihren Genossen Schülern auf wie ein Pöbelhaufen, während einer von ihnen eine aggressive Verurteilung des Erzfeindes des Tages verlas. Zionismus, ägyptischer Verrat, die europäische kapitalistische Ausbeutung, noch mal der Zionismus und eine Variante, die Charlie neu war und christlicher Expansionismus genannt wurde - doch dies vielleicht auch nur, weil heute Weihnachten war, ein Fest, das man hier durch entschlossene offizielle Nichtachtung feierte. Die Ostdeutschen hatten kurz geschnittene Haare, waren mürrisch und gaben vor, sich aus Frauen nichts zu machen; die Kubaner waren abwechselnd überströmend vor Lebensfreude, krank vor Heimweh oder arrogant, und die meisten von ihnen stanken und hatten faule Zähne, bis auf den sanften Fidel, der jedermanns Liebling war. Die Araber waren die lebhaftesten von allen und gaben sich am härtesten, schrieen die Nachzügler an und jagten jenen, die nach ihrer Meinung nicht genug aufpassten, mehr als einmal Kugeln vor die Füße, so dass einer von den Iren sich eines Tages in Panik ein Stück vom Finger abbiss, zum unbändigen Vergnügen von Abdul, dem Amerikaner, der aus der Ferne zusah, was er oft tat, grinste und hinter ihnen her zog wie ein Standfotograf beim Filmen und sich auf einem Block Notizen für den großen Revolutionsroman machte. Doch der Star des Lagers während dieser irrsinnigen ersten Tage war ein bombengeiler Tscheche, genannt Bubi, der gleich an ihrem ersten Vormittag seinen eigenen Stahlhelm über den Sand trieb, zuerst mit einer Kalaschnikow, dann mit einer mächtigen Zielpistole Kaliber.45, und zuletzt, um dem Unhold den Garaus zu machen, mit einer russischen Handgranate, die ihn zehn Meter in die Luft jagte.
    Lingua franca bei den politischen Diskussionen war ein primitives Englisch mit ein paar eingestreuten französischen Brocken, und wenn Charlie je wieder nach Hause kam - das schwor sie sich insgeheim -, würde sie einmal ganz groß ausgehen, bis sie all diese schwachsinnigen mitternächtlichen Ergüsse über ›Die Morgenröte der Revolution‹ für

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