Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
den Rest ihres unnatürlichen Lebens vergessen konnte. Wie die Dinge jetzt standen, so lachte sie über gar nichts. Sie hatte überhaupt nicht mehr gelacht, seit diese Scheißkerle ihren Geliebten auf der Autobahn nach München in die Luft gejagt hatten; dass sie in letzter Zeit Zeuge der Todesqualen seines Volkes geworden war, verstärkte nur noch ihr bitteres Bedürfnis nach Vergeltung.
    Behandle nur alles mit großem und einsamem Ernst , hatte Joseph zu ihr gesagt, der selbst so einsam und ernst war, wie er sie sich nur wünschen konnte. Sei zurückhaltend, spiel vielleicht ein bisschen verrückt, das sind sie gewohnt. Stell keine Fragen, und bleib Tag und Nacht für dich.
    Ihre Anzahl schwankte vom ersten Tag an. Als der Laster Tyros verlassen hatte, hatte ihre Gruppe aus drei jungen Frauen und fünf Männern bestanden. Jede Unterhaltung war ihnen von den beiden Wachen mit den pulverdampfgeschwärzten Gesichtern streng verboten worden, die hinten auf der Ladefläche mit ihnen fuhren, als der Wagen über einen steinigen Bergweg bockte und holperte. Ein Mädchen - Baskin, wie sich herausstellte - konnte ihr heimlich zuflüstern, sie seien in Aden; zwei Türken behaupteten, sie seien auf Zypern. Bei ihrem Eintreffen warteten bereits zehn andere ›Schüler‹ auf sie, aber schon zwei Tage darauf waren die beiden Türken und die Baskin verschwunden, offensichtlich im Laufe der Nacht; man hatte viele Laster mit ausgeschalteten Scheinwerfern ankommen und abfahren hören können.
    Zur Einführung hatten sie einen Treue-Eid auf die antiimperialistische Revolution schwören und sich die ›Regeln für dieses Lager‹ einprägen müssen, die wie die Zehn Gebote im Empfangszentrum der Genossen auf eine glatte Stelle der weißen Wand geschrieben worden waren. Sämtliche Genossen hätten die ganze Zeit über ihre arabischen Namen zu benutzen; keine Drogen, keine Nacktheit, kein Fluchen bei Gott, keine Privatunterhaltung, kein Alkohol, kein Geschlechtsverkehr, keine Selbstbefriedigung. Als Charlie noch überlegte, welches dieser Gebote sie als erstes brechen sollte, wurde eine auf Band aufgenommene anonyme Begrüßungsansprache über Lautsprecher abgespielt.
    »Meine Genossinnen und Genossen! Wer sind wir? Wir sind die Namenlosen und die Uniformlosen. Wir sind die Ratten, die der kapitalistischen Besetzung entronnen sind. Aus den von Schmerzen heimgesuchten Lagern des Libanons - wir kommen! Und werden den Völkermord bekämpfen! Aus den Betongrüften der Städte des Westens - wir kommen! Und werden uns finden! Und gemeinsam werden wir die Fackel entzünden - für achthundert Millionen Hungernde auf der ganzen Welt!«
    Doch als die Ansprache vorüber war, fühlte sie kalten Schweiß auf dem Rücken und einen nagenden Zorn in der Brust. Wir werden , dachte sie. Wir werden, wir werden . Sie blickte ein arabisches Mädchen neben sich an und erkannte das gleiche Feuer der Leidenschaft in ihren Augen.
    Tag und Nacht , hatte Joseph gesagt.
    Und so mühte sie sich Tag und Nacht - um Michels willen, um ihrer eigenen wahnsinnigen Normalität willen, um Palästinas willen, um Fatmehs und Salmas und der durch Bomben verletzten Kinder im
    ehemaligen Gefängnis von Sidon willen; sie zwang sich aus sich heraus, um dem Chaos in ihrem Inneren zu entgehen, sammelte die Elemente ihres angenommenen Charakters wie nie zuvor, schmiedete sie zu einer einzigen Schlachtidentität zusammen. Ich bin eine trauernde Witwe, völlig außer mir und hierhergekommen, um den Kampf meines toten Geliebten fortzusetzen. Ich bin als Kämpferin erwacht, will mich nicht länger mit halben Maßnahmen zufrieden geben und stehe - das Schwert in der Hand - vor euch.
    Ich habe die Hand auf das palästinensische Herz gelegt; ich habe gelobt, die Welt an den Ohren zu packen, in die Höhe zu heben und zu zwingen, zuzuhören.
    Ich lodere, aber ich bin auch listig und findig. Ich bin die schläfrige Wespe, die einen ganzen Winter warten kann, bis sie sticht. Ich bin Genossin Leila, eine Bürgerin der Weitrevolution. Tag und Nacht.
    Sie spielte diese Rolle voll und ganz aus, vom wütenden Aufbegehren, mit dem sie ihren unbewaffneten Kampf durchführte, bis zum unbeirrten Funkeln, mit dem sie ihr eigenes Gesicht im Spiegel betrachtete, wenn sie sich das lange schwarze Haar ausbürstete, das an den Wurzeln bereits wieder rot wurde. Bis das, was als Willensanstrengung begonnen hatte, für Geist und Körper zur Gewohnheit geworden war, ein ungesunder, immer vorhandener, einsamer

Weitere Kostenlose Bücher